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Indien

Ein Moment: Der Shop

Der Wolf möchte das Guthaben seines Handys aufladen. Da ich ja bereits zuvor recht negative Erfahrungen in den Flagship-Stores der großen Anbieter gemacht hatte, gehen wir zu einem der kleinen Straßenläden – nicht fern von jenem Platz, an dem ich wenige Tage zuvor zwei Straßenhunde beim Koitieren erwischt hatte. Diese Shops bestehen oft nur aus drei Brettern, zwischen denen ein Mensch sitzt und auf Kundschaft wartet – in diesem Fall wartet der Händler aber nicht, sondern er fährt mit einem Gerät an einem Handy entlang. Mich interessiert, was die Funktion des Geräts ist und was der Straßenhändler mit seiner Handlung bewirken möchte.

Und das führt zu folgendem Dialog:

Ich frage ihn: „Was ist das?“

Und er antwortet: „Mobiltelefon.“

Ich: „Nein… ich meine das andere Ding.“

Er: „Eine Maschine.“

Ich: „Aha. Und was machst Du mit dem  Handy und der Maschine?“

Er: „Arbeiten.“

Ich: „Und was arbeitest Du?“

Er: „Reparieren.“

Es ist in indischen Institutionen normal, dass die linke Hand nichts von den Handlungen der rechten Hand weiß. Und da es sich hier um einen Einzelunternehmer handelt, gibt es halt auch mit jeder Aussage nur partielle Informationen. Da die Dynamik des Gesprächs somit zu wünschen übrig lässt, setze ich meinen Weg ins Büro fort – die Funktion des Geräts wird wohl ewig ein Mysterium für mich bleiben.

Was ich in Matheran gelernt habe

Als der kleine Zug wieder an den Klippen entlang Richtung Tal rattert, lasse ich meinen Kopf aus dem Fenster hängen und überlege, was ich aus der Zeit in Matheran gelernt habe.

Erstens – das war wohl meine die einfachste Erkenntnis – habe ich festgestellt, dass auch der neue indische Mittelstand Urlaub macht – ich bin in Matheran wohl der einzige ausländische Tourist gewesen; und zugleich war ich wohl auch einer der ruhigsten und unauffälligsten Zeitgenossen – denn die indische jugendliche Mittelklasse hat Geld; und sie möchte zeigen, dass sie dieses auch ausgeben kann: Die Brunftschreie der weiblichen Exemplare, verteilt über den ganzen Berg im Rahmen eines gewaltigen Paarungsrituals, erinnern eher an lärmende Ballermann-Touristen denn an indische Weisheit.

Zweitens: Das Angebot passt sich der Nachfrage an. Die neue Mittelklasse will in den Bars von Matheran Wasserpfeife rauchen, obwohl das mit der lokalen Kultur herzlich wenig zu tun hat; und sie will auf Pferden reiten, daher werden Beamte bestochen, um mehr Gäule auf den Markt werfen zu können; und sie will einen 3G-Empfang haben – deswegen thronen mitten auf dem roten Felsen gewaltige Mobilfunkmasten in der sonst so intakten Natur. Was sich in Matheran abspielt, kann stellvertretend für das gesamte Land gesehen werden: Wo eine inländische Nachfrage besteht, da gibt es auch ein inländisches Angebot.

Und drittens: Es gibt dennoch noch schwarze Flecken auf der Landkarte. Wer sich von den Haupt-Touristenpfaden los reißt, der entdeckt eine intakte Natur, mit wild lebenden Affen – und mit Frauen, die im Wald Holz sammeln gehen, damit sie abends kochen können; von den touristischen Ereignissen nur wenige Dutzend Meter weiter sind sie vollkommen unbeeindruckt. Und genau in diesen schwarzen Flecken wird dem Jünger der Modernen Technik klar, wie sehr er sich in ein Abhängigkeitsverhältnis begeben hat: Es gibt in Indien noch Flecken, die noch nicht von Google Maps erfasst wurden; im tiefsten Wald liegt ein Hotel, für das es erst seit meiner Anwesenheit einen Foursquare-Checkin gibt; und Stromausfälle sind keine Seltenheit – wer sich auf die permanente Verfügbarkeit der Technologien des 21. Jahrhunderts verlässt, der ist bald so sehr verloren wie ich während meiner nächtlichen Odyssee durch den Wald.

Ich habe Städte wie Bangalore und Bombay gesehen, habe mich mit den Gründern indischer Start-Ups unterhalten und auf Konferenzen erfahren, wie rasch die Anzahl der Mobilfunkkunden in diesem Land voran schreitet – doch Matheran dürfte wohl nur ein kleiner Vorgeschmack darauf sein, wie stark sich das Leben im Land vom hochtechnologischen Status des Städte unterscheidet.

Die Dschungelgeister

Manche Situationen sind einfach zu klischeehaft, um wahr zu sein: Beim Verfassen des vorherigen Beitrags war es bereits der Abend meines zweiten – und somit auch letzten – Tages in Matheran. Nach einer ausgedehnten Wanderung durch den Wald zum Ordnen meiner Gedanken hatte ich es mir auf der Veranda meines Bungalows bequem gemacht, mit Blick auf die Wildnis und die untergehende Sonne. Ein Zimmerjunge hatte mir eine Tasse Tee kredenzt; und ich machte mich daran, meine Erfahrungen in geschriebene Worte zu fassen – das nahezu malerische Bild eines zurückgezogenen Schriftstellers. Ich kratze mich an meinem Bart.

Dann wird meine Einsamkeit durchbrochen; und ich stelle plötzlich fest, dass ich nicht mehr der einzige Gast in diesem Hotel im Urwald bin. Im Haus neben mir sind zwei junge Männer eingezogen, und sie diskutieren: „Dieser Ort hat einen Charme“, sagt der Eine: „Du wirst Dich dein Leben lang daran erinnern, dass Du hier gelebt hast – das ist viel besser als jedes Drei-Sterne-Hotel.“

Der Andere, so erfahre ich später beim Abendessen, sieht das Hotel im Wald eher aus der Perspektive eines Splatter-Film-Geschädigten: Die Halle, in der wir zu abend essen, die früher ein Kino gewesen ist und in der nun der Putz von den Wänden bröckelt, die sei die beste Kulisse, um in einem Horror-Film einen blutigen Massenmord zu inszenieren. Ich grinse, und erzähle von meinen Erlebnissen des Vorabends, von meinem Irrweg durch den Wald. Und ich setze noch eine weitere Erfahrung von der vorherigen Nacht drauf: Während ich schlief, rumpelte es stets in meinem Badezimmer. Anfangs sah ich noch nach, blickte in die Dunkelheit: Nichts. Dann wieder: Rumpel, Rumpel. Ein weiterer Blick, diesmal mit Licht: Nichts außer einem Klo, einem Waschbecken und einer Dusche. Beunruhigend? Geister? „Irgendwann habe ich mir dann eingeredet“, sage ich: „Dass das die Affen waren, die über das Dach rannten.“ Der Eingeschüchterte runzelt die Stirn: „Ja, das war es wohl hoffentlich. Danke für den Tipp.“ Nervös nippt er an seinem Wasser.

„Ich habe Dich auf dem Balkon gesehen, Du hast geschrieben“, sagt der Andere, der Euphorische: „Bist Du Schriftsteller?“ Jein, denke ich mir: „Ich bin Journalist – aber es kann gut sein, dass ich gerade ein Buch schreibe.“ Es stellt sich heraus, dass der Euphorische selbst ein Schriftsteller ist, ich habe also sein Interesse geweckt: „Wie viele Seiten hast Du schon geschrieben?“, fragt er. Meine Gedanken wandern zurück zu dem, was ich mir während meiner Wanderung durch den Wald überlegt habe, was aber noch keine Form angenommen hat, und was ich daher nicht zu sehr an die große Glocke hängen möchte: „Ich weiß es nicht“, gestehe ich: „Zur Zeit schreibe ich einfach meinen Blog voll mit Geschichten – und dann soll irgendwas über das moderne Indien dabei raus kommen.“

Der Autor ist freundlich interessiert; er gibt mir noch den Tipp, mir nach meiner Rückkehr in die deutschsprachige Welt einen Literaturagenten zu suchen – dann verabschieden sich die Beiden und legen sich schlafen.

Und ich? Ich kehre ebenfalls in mein Quartier zurück; mache mich daran, dieses Erlebnis niederzuschreiben – während ich aus meinem Bad schon wieder nächtliche Geräusche vernehme, von denen ich hoffe, dass sie von Affen stammen.

Ein Moment: Auf den billigen Plätzen

Im Zug von Mumbai nach Neral, Zweite Klasse: Es ist früh morgens, und die Sonne geht gerade über den Dächern der vorbei ziehenden Häuser auf. Bei einem Blick aus dem Fenster des ratternden Zuges kann der Fahrgast beobachten, wie der Feuerball neben Wohnhäusern auch Tempel und Moscheen in ein goldenes Licht taucht.

Im Abteil ist es gedrängt. Klimaanlage gibt es in der Zweiten Klasse keine, und alle Sitzplätze sind besetzt. Händler bahnen sich ihren Weg durch die Bänke, verkaufen für lächerlich geringe Beträge Kaffee, Tee und Frühstück aller Art.

Neben mir sitzt ein Mann, Mitte 40. Er schläft auf seinem Sitzplatz, Kopf nach hinten gekippt, mit offenem Mund. Bis es in seiner Hose läutet und vibriert. Dann holt er sein Smartphone aus der Hosentasche und liest mit verschlafenem Blick das Offert eines US-amerikanischen Unternehmens zu verschiedenen Maschinen. Das Mail der Amerikaner ist sehr sachlich und formell. Er antwortet: „What u think?“. Dann schläft er weiter und überlässt dem Key Account Manager in den USA die Entscheidung, welche Maschine den Weg in die indische Fabrik findet.

Der Zug rumpelt. Der Manager schnarcht. Es riecht nach Urin.

Ein Moment: Familienausflug

Ich verstehe meinen Rikscha-Fahrer nicht; denn er kaut auf Kautabak, während er das Gefährt durch den wildem Straßenverkehr Bombays navigiert. Dazwischen lehnt er sich immer wieder zur Seite und spuckt auf die Straße, während die anderen Fahrzeuge vorbei ziehen: Schlechte, alte Autos heutzutage weit weniger als die so beliebten deutschen Luxus-Limousinen; dazu andere Rikschas, und natürlich Motorräder – neben mir erblicke ich also das Bild eines romantischen indischen Familienausflugs: Vater sitzt fest im Sattel, mit einem Helm auf dem Kopf, hinter ihm die Ehefrau, zwischen den Beiden ein Kind. Vor dem Vater sitzen zusätzlich zwei weitere Kinder – fünf Fahrgäste an der Zahl also auf einem einzigen Moped, und nur der Fahrer trägt einen Helm. „Naja“, denke ich mir: „Wenigstens trägt die Mutter ein Kopftuch.“

Die Fahrgemeinschaft verschwindet im wilden Verkehr aus meinem Blickfeld; ein paar Minuten später tauchen sie auf, sind aber nur noch zu viert. Was wohl aus dem fehlenden Fahrgast geworden ist? Besser nicht drüber nachdenken, denke ich mir. Der Fahrer spuckt erneut aus.

Tee – Mystisch, lecker, kompliziert

Gestern war der „Internationale Tag des Tees“ – eine gute Gelegenheit für mich, endlich meinem Bericht online zu stellen von jenem Tee-Seminar, das ich vergangenen Sonntag besucht habe. Das Ganze fand im Hub Bombay statt – also in genau jenem Co-Working-Space, von dem ich auch regelmäßig meine Artikel in die Welt hinaus schicke.

Hier ein Bild von der netten Seminarleiterin:

Zu Beginn des Seminars habe ich erfahren, dass eigentlich alle Tees von der gleichen Pflanze, Camellia Sinensis, kommen – also, richtige Tees halt, wie etwa der Schwarze Tee, der Grüne Tee und der weit weniger bekannte Weiße Tee. Entscheidend ist zur Unterscheidung der Teesorten eigentlich hauptsächlich, wie lange er oxidiert wurde: Ein Schwarztee ist deshalb so schwarz, weil er zu fast 100 Prozent oxidiert wurde, der Grüne Tee 30 bis 40 Prozent oxidiert und der Weiße Tee überhaupt ganz wenig (ca. 10 Prozent). Außerdem kommt Weißer Tee von den Spitzen der Pflanze, die von Hand geerntet werden – das macht ihn zur teuersten Tee-Sorte.

Weiters ist wichtig für die Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Tees, dass sie aus unterschiedlichen Regionen kommen – unterschiedliche Böden, Klima und leicht unterschiedliche Pflanzen tragen dazu bei, dass jeder Tee ein bisschen anders schmeckt: Der in Europa sehr bekannte Darjeeling-Tee hat etwa ein eher leichtes Aroma, man könnte ihn fast als den Weißwein der Tees bezeichnen – entsprechend lässt er sich auch gut konsumieren zu jedem Mahl, zu dem man auch Weißwein trinken würde. Der Rotwein unter den indischen Tees hingegen ist der Assam-Tee: Eher schwerer im Geschmack, wird er oft auch als Grundlage für die Zubereitung anderer, parfümierter Teesorten verwendet. Der billigste – und in Europa wohl am wenigsten bekannte Tee – ist wohl der Nilgiri-Tee, der im Südwesten des Landes auf einer Höe zwischen 800 und 1000 Metern angebaut wird.

Dann gibt es noch die Unterscheidung zwischen „First Flush“, „Second Flush“ und „Third Flush“ – dieser bezeichnet, in welcher Saison der Tee abgebaut wurde.

Klinge ich nun wie ein Snob? Ich bitte um Entschuldigung. Die Wahrheit ist: Ich kann vermutlich gerade mal einen Schwarzen Tee von einem Pfefferminztee unterscheiden – ich bin einfach ein schlechter Schüler. Aber dafür – haha! – habe ich auch gelernt, wie man Teebeutel bastelt – wenn es mit dem Scheiben also irgendwann nichts mehr wird, kann ich auch unter die Teebeutelbauer gehen.