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Pondicherry

Auroville: Das endlose Experiment

Nach der Erfahrung im Ashram von Aurobindo ist klar, dass ich auch dem nahe Pondicherry gelegenen Auroville einen Besuch abstatten muss – was so klingt wie die Verballhornung alles Sektoiden in bester Simpsons-Manier ist in Wahrheit ein Versuch, der Ende der 60er Jahre gestartet wurde und bis heute andauert. Hier sollen verschiedene Völker friedlich miteinander leben; es soll spirituelle Erfüllung geben, aber keine Religion; keinen Besitz, aber eine Bereicherung des Lebenssinns durch Arbeit – Ziel ist, ein Vorbild für die gesamte Menschheit zu bilden.

Das klingt stark nach Hippie-Traum und John Lennons „Imagine“ – in Wahrheit sind meine Gesprächspartner aber alles andere als kiffende Alt-68er, sondern eifrige Geschäftsleute; es ist recht schwierig, an einem einzigen Tag alle Termine mit einander zu koordinieren. „Manchmal frage ich mich, wie sich das überhaupt ausgehen soll“, sagt mir ein österreichischer Zivildiener – sein Chef macht sich manchmal mehrere Termine gleichzeitig aus; halt so, wie es im Westen der CEO eines großen Konzerns machen würde.

Schließlich führt mich mein erster Weg doch zu Martin, dem Geschäftsführer eines Unternehmens namens „Auroville Consulting“. Ich frage ihn, was seine Firma so macht – und trete damit schon mal gleich ins Fettnäpfchen: „Das ist nicht meine Firma“, korrigiert er mich. Denn in Auroville gibt es keinen Besitz; sein Unternehmen, sein Haus und sein Einkommen gehören der Auroville Foundation, als Bezahlung für seine Arbeit erhält er – ebenso wie alle anderen, die zum Erfolg Aurovilles beitragen – jeden Monat 11.000 Rupien. Dieses Einkommen ist unabhängig von der Art der Beschäftigung, es gibt keine Angestellten und keine Arbeitsverträge. „Der finanzielle Anreiz fällt somit weg“, sagt Martin, während wir uns im Schneidersitz in einem sonnigen Innenhof gegenüber sitzen: „Daher arbeiten wir ausschließlich aus Leidenschaft für die Arbeit, die meisten hier glauben an die Vision von Auroville.“

Ob man von 11.000 Rupien im Monat wohl leben kann? „Es ist tough, denn in meinem Beruf braucht man einen guten PC, muss Fachliteratur kaufen und auf Konferenzen fahren“, sagt er mir. Es gibt aber auch einen Fonds, aus dem man Geld schöpfen kann, wenn es wirklich dringend benötigt wird – die Bedienung aus diesem erfolgt auf Vertrauensbasis. In Österreich war er fast fünf Jahre lang nicht, bis er im April 2010 kurzfristig zurückkehrte: „Da habe ich festgestellt, dass sich in der langen Zeit nicht wirklich etwas verändert hat“, sagt er grinsend. In Auroville, wo permanent an einer besseren Welt gearbeitet wird, tut sich einfach mehr.

Und die Kulturen mischen sich – allein in Martins Freundeskreis finden sich acht Nationalitäten, wie er mir erzählt. Die gesamte Community macht heutzutage mehr als 1800 Einwohner aus 35 Nationen aus, die in 80, auf zehn Quadratkilometern verstreuten Siedlungen unterschiedlicher Größe leben. Über 40 Prozent der Bewohner sind Inder, rund 15 Prozent Franzosen und elf Prozent Deutsche. Vor der Gründung Aurovilles gab es hier bloß zwei Dörfer mit rund 50 Einwohnern – und nachdem mir ein paar Wochen zuvor eine Reisende von Auseinandersetzungen zwischen den internationalen Siedlern und der lokalen Bevölkerung erzählt hatte, spreche ich Martin darauf an: „Natürlich gibt es Reibereien“, sagt er: Die lokale Bevölkerung habe etwa andere Vorstellungen zu Entwicklung; während der Westler ein Leben abseits des Konsum-Wahns rund um Shopping-Center und schwachsinnige Fernseh-Shows sucht, wünscht sich die hiesige Bevölkerung eigene TV-Geräte und Motorräder – auch Alkoholismus ist ein Thema. „Und das entspricht nicht dem Lebensstil von Auroville“, sagt Martin: „Wir müssen daher Alternativen bieten.“

So wie es Aurelio tut. Er hat in Österreich Ethnomusikologie und Musiktherapie studiert und nutzt hier das Wissen der lokalen Bevölkerung um neue Instrumente zu bauen – in seinem Shop reihen sich Klangkörper aneinander, die ich in dieser Form noch nie gesehen habe. Mit einem Monatsbudget von 500.000 Rupien hat er bisher über 30 Mitarbeiter zu Instrumentenbauern ausgebildet. „Sie waren zuerst Analphabten, nun sind sie im Management“, sagt er mit einem milden Lächeln. Während wir uns unterhalten findet ein paar Meter weiter ein Workshop zum Thema „Body Percussion“ statt – die Teilnehmer klopfen sich auf verschiedene Körperteile und machen lustige Geräusche mit ihren Mündern; Aurelios hauseigene Truthähne stimmen begeistert mit ein.

Und dann ist da noch Mauna. Sie ist Teil des PR-Teams von Auroville, und ich treffe sie zum Mittagessen. „Puh, das ist ganz schön viel Info für einen Tag“, ächze ich: „Vermutlich bräuchte ich Wochen, um das System von Auroville komplett zu verstehen.“ Denn zwischen meinen Gesprächen habe ich noch einem der Museen Aurovilles einen Besuch abgestattet – und dort mich zumindest eingelesen in die Tatsache, dass Auroville auch rund um Solarenergie, Abfallmanagement und Alternative Antriebssysteme eine Vorreiterrolle einnimmt. Mauna lächelt angesichts meines Informations-Overflows: Sie hatte mich schon im Vorfeld per Email gewarnt, dass das Projekt Auroville zu komplex ist, um es an einem einzigen Tag zu erfassen.

Sie selbst ist im Jahr 1971 hierhergekommen. Ursprünglich war sie eine Journalistin, die durch Indien reiste: „Und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich nur in Schlagzeilen denke“, sagt sie – jetzt bin ich derjenige, der lächelt; wir verstehen einander offensichtlich. Verschiedene Ereignisse reihten sich aneinander, die ihr Weltbild veränderten; und dann traf sie die Frau Aurobindos – in Auroville bekannt unter dem Namen „Mutter“ – und entschloss sich, hier zu bleiben und beim Fundraising für das Projekt Auroville zu helfen.

Ob das Projekt wohl irgendwann abgeschlossen ist? Derzeit jedenfalls noch nicht, sagt sie: Verschiedene ökonomische Systeme – etwa eine Wirtschaft ohne Geld – wurden bisher ausprobiert, aber alle hatten irgendwie ihre Macken; und so probiert die Community nach einem Trial-and-Error-Prinzip weitere Systeme aus, bis irgendwann die optimale Lösung gefunden ist. Und das kann noch lange dauern.

Wir sitzen in einer Kantine nahe ihrem Büro, und im Hintergrund sehen wir den wohl auffälligsten Erfolg von Maunas Fundraising-Arbeit: Das Matrimandir. Dieses Gebäude mit seiner riesigen goldenen Kuppel ist das geographische und spirituelle Zentrum Aurovilles. Im „Lonely Planet“ habe ich gelesen, dass in seinem Zentrum der größte makellose Kristall der Welt verborgen ist; Fremden ist der Zutritt aber verwehrt. Mauna allerdings merkt, dass ich mehr bin als ein bloßer Tourist; sondern ein Reisender, der etwas sucht, wovon er noch immer nicht weiß, was es eigentlich ist – und außerdem habe ich ihr von meiner Meditation im Ashram erzählt, die zeigt, dass ich spirituell nicht vollkommen unerfahren bin. „Du solltest daher nicht abreisen, ohne im Matrimandir meditiert zu haben“, sagt sie. Ich solle doch am nächsten Tag früh morgens wieder kommen. Das trifft sich gut, zumal ich am nächsten Tag ohnehin nach Mahabalipuram abreisen wollte und Auroville quasi auf dem Weg zwischen dort und Pondicherry liegt – ich willige also ein, fahre zurück nach Pondy und bin schon gespannt auf den nächsten Tag.

Lakshmi und ein guter Ashram

Mit rauschigem Schädel eile ich somit alleine zum Ganesh-Tempel – Ganesh und ich, wir verstehen und recht gut: Ich besitze mittlerweile einen Schlüsselanhänger und zwei Gemälde mit seinem Abbild, in Bombay wartet noch eine kleine Statue des elefantenköpfigen Gottes auf mich; und im Gegenzug für meine Einkaufslust räumt er die Probleme während meiner Reise aus dem Weg – gegen die Macht eines Gottes kommen nun mal selbst indische Bürokratie, verspätete Züge und gewaltige Straßenlöcher nicht an. Um auf Nummer sicher zu gehen, kaufe ich mir daher beim Tempel in Pondicherry noch ein weiteres Abbild: Ganesh mit Geldgöttin Lakshmi und Weisheitsgöttin Sarwaswati als handliche, laminierte Karte für die Geldbörse.

Im Tempel torkle ich einmal im Kreis, bewundere die Architektur und die verschiedenen Abbilder meines Lieblingsgotts, wohne noch dem Pooja bei und trete anschließend ins Freie – dort erwartet mich dann das eigentliche Highlight der Institution: Lakshmi. Benannt nach der Göttin des Geldes, ist Lakshmi der Tempelelefant des Ganesh-Tempels in Pondicherry; sie trägt kleine Silberkettchen rund um ihre Beine, die so dick sind wie Baumstämme, und sie begrüßt freudig jeden einzelnen Passanten durch Heben ihres Rüssels. Wer will, der kann ihr Futter geben – viel lieber hat sie aber Geld: Anfangs kaufe ich Heu und reiche es ihr, woraufhin sie es sich achtlos ins Maul stopft; als ich ihr aber anschließend eine Rupie-Münze in den Rüssel reiche, schiebt sie sich diese ebenfalls in die Mundhöhle und segnet mich anschließend – was de facto bedeutet, dass sie dem Gläubigen einmal mit dem Rüssel auf den Kopf haut.

Beduselt von der Elefantenwatschen und den zwei Kingfisher schaue ich ihr noch eine Weile zu, bewege mich dann zum Ashram, den ich mir ja ebenfalls noch an diesem Tag ansehen wollte.

Dort erwarte ich das, was ich auch in Kerala erlebt habe: Eine durchgeknallte Sekte rund um einen Guru, der von den Anhängern in den Himmel gelobt wird, ohne auch nur einen Funken gesunden Menschenverstands oder auch nur den Hauch einer Chance, auf eigene Faust Erleuchtung zu finden – in Ashrams, so meine bisherige Erfahrung, gibt der Guru den Takt vor und alle müssen folgen.

Bei Sri Aurobindo in Pondicherry ist das anders. Dort betrete ich das Gelände, und es kümmert sich kein Schwein um mich. Stattdessen kann ich mich frei bewegen; lediglich ein kleiner Wegweiser zeigt mir den Pfad hin zum Hinterhof, wo sich Gäste aufhalten dürfen. Dort befindet sich ein mit Blumen besetzter Quader, vor dem Menschen knien, um in der Stille (man hört den Straßenlärm kaum) sich auf sich selbst besinnen zu können. Verteilt um das spirituelle Zentrum herum sitzen in einigen Metern Abstand, meist an die Mauern des Gebäudes gelehnt, Menschen verschiedener Nationalitäten – im Schneidersitz, mit geschlossenen Augen meditierend.

Auch ich nehme hier Platz, schließe die Augen und mache jene Atemübungen, die ich während meiner Studentenzeit mal aus einem Buch gelernt habe. Neben mir sitzt ein Inder mittleren Alters und tut genau das gleiche. Ich versinke in mich selbst, kann mich mit mir beschäftigen, ohne vom Alltag abgelenkt zu werden – und als ich eine Zeit später wieder die Augen öffne, weiß ich, dass dies eine gute Meditation war. So muss es halt sein – eigenständig, ohne einen falschen Heiligen. Ich fühle mich ausgeglichen und ruhig, und wanke glücklich heimwärts.

Später habe ich diese Geschichte gerne Freunden erzählt. Denn der Satz „Als ich mich mit einem schwulen Australier betrank, mich von einem Elefanten ohrfeigen ließ und anschließend meditieren ging“ drückt wohl so schön wie nichts anderes aus, wie treffend sich die Vielfalt Indiens in einer kleinen Stadt wie Pondicherry widerspiegelt.

Das schwule Indien

Im Cafe des Artes klopfe ich wieder mal Artikel und Texte wie diesen in meinen Laptop. Irgendwann komme ich mit zwei Australiern ins Gespräch, die einen Tisch weiter sitzen – zwar sind sie auch nur kurzfristig für ein paar Wochen als Touristen in Indien; aber einer von Beiden fällt mir auf, weil er in einem Fachbuch über Hinduismus blättert. Er stellt sich als Peter – Spitzname „Peterpedia“, weil er so viel weiß – vor; und wir plaudern über die Tempel in der näheren Umgebung. Seine Art ist freundlich-fröhlich; er lacht viel. Für den weiteren Tag plant er, sich einen Ganesh-Tempel und das städtische Museum von Pondicherry anzuschauen; und ich frage ihn, ob ich mich anschließen kann. Daraufhin schreibe ich noch eine halbherzige Mail und schalte den Laptop aus – Feierabend, es ist ja auch immerhin schon zwei Uhr nachmittags.

Leider werden wir enttäuscht. Montags ist das Museum geschlossen; und der Ganesh-Tempel ruht ebenfalls bis 16 Uhr. Also beschließen wir, in ein eiskalt gekühltes Fünf-Sterne-Hotel zu gehen und dort ebenso starkes Kingfisher Strong zu uns zu nehmen – gegen die Hitze. Peters Handy läutet ununterbrochen, während wir gehen; manche Anrufe weist er genervt zurück, bei anderen hebt er ab und sorgt in beruhigendem Tonfall: „Ja, mach Dir keine Sorgen. Ich bin jetzt unterwegs; aber natürlich werde ich dort sein … na klar, wir machen das.“ Nach mehreren Anrufen dieser Art fühlt er sich verpflichtet, mich aufzuklären: „Falls Du es noch nicht gemerkt hast“, sagt der Mann mit den Ohr-Piercings, „sollte ich Dich darauf hinweisen, dass wir schwul sind.“ Ich lächle: „Habe ich mir schon fast gedacht.“

Und obwohl es ursprünglich nicht geplant war, sagt mir Peterpedia, entwickelt sich die Indien-Reise für ihn und seinen Partner zu einem Sex-Urlaub: Auf jeder Station ihrer Reise nehmen sie sich einen persönlichen Assistenten, der für sie Zugtickets, Unterkünfte, Touren und indische Sim-Karten für ihre Smartphones besorgt – und nebenbei auch sexuell offen für das gleiche Geschlecht ist.

„Sieh Dir das an, der ist doch knackig“, sagt Peterpedia, als wir in der Hotelbar unser erstes Kingfisher Ultra süffeln. Die Rede ist von einem 20jährigen Kellner mit drahtiger Gestalt. „Tamilische Männer sind einfach so heiß“, schwärmt Peterpedia. Ich frage ihn, ob ihn Schnauzer auch scharf machen. „Sie stoßen mich zumindest nicht ab“, sagt er: „Das würde 80 Prozent der Männer als potentielle Sexpartner ausschließen.“ Viel störender empfinde er diese Faszination für Cricket: „Darüber können sie stundenlang reden!“, ächzt er: „Und ich denke mir dann immer: Halt die Klappe und nimm mich endlich ordentlich durch.“

Überraschenderweise ist es für Peterpedia in dieser fremden Kultur nicht schwer, Sexualpartner zu finden: Die traditionellen Rahmenbedingungen sehen es für junge Männer in ländlichen Regionen noch immer vor, dass die Eltern die Ehepartner auswählen; und Sex vor der Ehe ist zwar vielleicht irgendwie möglich, ist aber mit erheblichen Umständen verbunden, um den wachsamen Blicken der Eltern zu entgleiten – dem entgegen stehen westliche Touristinnen und Touristen, die sexuelle Offenheit vorleben, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein; ebenso wie Hollywood und Bollywood, die Beide pornoähnliche Scheinwelten erzeugen. Das Ergebnis dieser Diskrepanz sind junge Männer, die gerne jene sexuellen Träume ausleben würden, die ihnen von Anderen vorgelebt werden – von der Gesellschaft aber daran gehindert werden.

Und dann ist Homosexualität für sie der beste Schritt? „Anfangs schreckt sie der Gedanke freilich ab“, sagt Peterpedia: „Aber dann sage ich ihnen, dass ich die Rolle der Frau übernehme, und damit können sie sich anfreunden.“ Eine gewisse Offenheit werde sichtbar durch die Kleinigkeiten des Lebens: Wenn die jungen Männer ihn etwa mit der linken Hand füttern – denn die linke Hand gilt als unrein, und somit planen sie schmutzige Sachen mit dem großen Australier. Wir bestellen uns noch zwei große Bier.

Ob es lokale Unterschiede gibt? „Am Besten ist es in Tamil Nadu“, sagt Peterpedia. Die Jungs hier sind erstens genau nach seinem Geschmack; und zweitens schere sich die Gesellschaft weniger darum, wenn er mit drei jungen Männern alleine auf sein Hotelzimmer verschwinde. In Kerala etwa sei das anders; dort müsse man aufwändige Umwege gehen, damit niemand Verdacht schöpft. Und sehr schlechte Erfahrungen hat er im touristischen Rajasthan gemacht: Dort hatte ein Shopbesitzer seine Peterpedias sexuelle Neigungen erkannt und ihm diverse gemeinsame Ausflüge, romantische Abende und wilde sexuelle Abenteuer versprochen, wenn er um ein paar tausend Rupien bei ihm einkaufe. „Als meine Erektion abgeschwollen war und mein Hirn wieder mit Blut versorgt wurde wusste ich freilich sofort, was da abläuft“, sagt Peterpedia. Dann habe er das Weite suchen wollen, aber die Männer seien recht hemmungslos, wenn es ums Geld gehe: Man habe ihn gehalten, gestreichelt, seine Wangen und seinen Hals mit Küssen bedeckt.

Da wir ohnehin schon so offen reden, frage ich ihn, wie es um die Verhütung steht – immerhin hatte mir mein Strand-Gesprächspartner erzählt, dass indische Männer ungern Kondome verwenden. „Das ist weniger ein Problem“, sagt Peterpedia: Erstens sei bei seinen Freunden das Sicherheitsbedürfnis bei homosexuellem Kontakt stärker als bei heterosexuellem, und zweitens kriegen die Jungs einen Schreck, wenn sie seinen Oberarm sehen – er zieht den Ärmel seines Hemds hoch und entblößt Narben von Einstichstellen. Heroin. „Und die Angst vor AIDS lässt Jeden deutlich vorsichtiger werden“, sagt Peterpedia.

Inzwischen ist es 16 Uhr, und wir haben jeweils zwei große, starke Kingfisher ausgetrunken; außerdem hat der Ganesh-Tempel nun geöffnet. Also breche ich auf; und ich frage Peterpedia, ob er mir Gesellschaft leisten möchte. „Nein danke, da werde ich ausfallen“, sagt er: „Die Jungs stehen in einer halben Stunde vor unserem Hotelzimmer – und ich lasse mich doch lieber ordentlich durchnehmen, für Kultur habe ich ja auch morgen noch Zeit.“ Dem ist freilich nichts mehr entgegen zu bringen; und so breche ich alleine auf in Richtung spiritueller Horizonterweiterung.

Strandgespräch: Let’s talk about Sex

„Der hat viel zu viel verlangt“, sagt mein neuer Freund – der Beamte, der gerne am Strand mit Ausländern spricht – kopfschüttelnd in Bezug auf den Wahrsager. Wir sind uns wieder mal bei einem abendlichen Strandspaziergang begegnet und sitzen erneut auf dieser Bank an der Promenade, reden über das Leben und die Liebe.

„Es sind ja viele Touristen hier“, sage ich; vor allem Franzosen. „Ja, und die europäischen Frauen sind so aufgeschlossen“, sagt er begeistert: „Sie zeigen so viel von ihrer Brust“. Stimmt, zumindest im Vergleich: Traditionelle indische Kleider bedecken den Körper der Frau in den meisten Fällen bis zum Hals; ein wenig vom Oberkörper zu zeigen ist für die Verhältnisse einer südindischen Kleinstadt daher extrem aufreizend. Mein Gesprächspartner hat das Verhalten der Westler auf der Promenade jahrelang studiert: „Oft spricht ein Mann eine Frau beim abendlichen Spaziergang einfach an; dann plaudern sie ein wenig, gehen ins Hotel und haben dort Sex“, erläutert er begeistert: „Hier hast Du also leichtes Spiel mit den Frauen.“ Ich lächle höflich, nicke und weise ihn darauf hin, dass in Österreich eine wundervolle Frau auf meine Rückkehr wartet.

Ob ich verheiratet bin, fragt er mich folglich; und ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich zwar nicht verheiratet bin, aber eine wundervolle Freundin an meiner Seite weiß. Er nickt wissend: Europäer hätten ja viele Freundinnen und mit mehreren Menschen Sex, bevor sie heiraten – wie viele es denn bei mir schon gewesen seien? Ich nenne ihm emotionslos eine Zahl, die in Wien wohl niemand vom Hocker gerissen hätte – er aber lacht anerkennend; offensichtlich hält er mich für einen wilden Hengst.

„Und, Ihr könnt jederzeit Sex miteinander haben? Einfach so?“, fragt er mit großen Augen. Ja, klar, sage ich. Ist in Europa ja normal. Er hingegen lebt in einer arrangierten Ehe; die Eltern haben seine Frau für ihn ausgesucht – das ist auch im modernen Indien nicht ungewöhnlich; und Sex vor der Ehe ist für ihn Tabu. „Außerdem sind indische Frauen nicht so wirklich scharf auf Sex“, sagt er bedauernd. Würde mal ein paar Monate nichts laufen, wäre das kein Drama. Und überhaupt sei alles etwas schwieriger, sobald die Kinder da seien: Mit Frau und Nachwuchs schlafe er gemeinsam in einem Zimmer; und das erschwert den Austausch von Zärtlichkeiten in der Nacht immens – als Lösung auf das Problem treffe er sich manchmal mit seiner Frau zuhause in der Mittagspause, während die Kinder in der Schule sind. Aber auch abgesehen von der Anwesenheit der Kinder sei das Sexleben seit deren Geburt nicht mehr so berauschend: Die Zielsetzung des Geschlechtsverkehrs – also das Zeugen von Nachwuchs – sei dann erreicht; und die Frau habe entsprechend nicht mehr viel Interesse, seine Liebste sei in den vergangenen Jahren auch extrem in die Breite gegangen.

Nächste Frage: Welche Kleidung ich eigentlich zum Duschen trage. „Ich dusche eigentlich meistens nackt“, entgegne ich. Auch diese Tatsache beeindruckt meinen Gesprächspartner: Er selbst trage stets Unterwäsche beim Duschen; denn alles andere wäre ja obszön, sagt er. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm glauben soll.

Vor dem Einschlafen liege ich im Bett und schalte durch die Fernsehkanäle. In Hindi-Musikvideos tanzen wieder Frauen durch das Bild – bekleidet mit knappen Saris in leuchtenden Farben präsentieren sie ihre flachen Bäuche der Menschheit; auf einem andren Kanal wird diskutiert, welche Bollywood-Stars gerade etwas miteinander laufen haben. Ich weiß: Nicht ganz Indien ist so wie die Welt meines Freundes vom Strand – aber im Großen und Ganzen bin ich glücklich, meine sexuelle Sozialisierung in einer westlichen Kultur erlebt zu haben.

Eine Begegnung am Strand

Die beste abendliche Zeitbeschäftigung in Pondy ist ein einsamer, romantischer Spaziergang entlang der Strandpromenade. Und weil das Jeder weiß, ist der Spaziergang freilich alles andere als romantisch und einsam, der Weg entlang der tosenden Wellen ist heillos überfüllt. Dennoch: Es gibt nichts Besseres – erst Recht nicht nach einer dicken Portion Pasta.

Während ich meine Verdauung durch Flanieren in Gang bringe, lasse ich meine Gedanken schweifen – und gerade, als ich mal wieder kurz vor einer neuen Erkenntnis über das Leben, das Universum und den ganzen Rest stehe, werde ich – wie in Indien üblich – angesprochen. Ein Mann, gekleidet in Wollmütze und Winterjacke, fragt mich, wo ich her komme. „Deutschland“, sage ich, und suche das Weite. Er folgt mir, und zieht seine Wollmütze vom Schädel – sichtbar wird darunter der Kopf eines rund vierzigjährigen Mannes; ein Schnurrbart und zwei braune Augen lächeln mich freundlich an. „Vermutlich hat Sie meine Wollmütze irritiert“, sagt er: „Die macht Ausländern immer Angst.“

Er stellt sich vor: Ein Beamter in der Stadtplanung ist er; und er besitzt drei Häuser in Pondicherry – über Geld muss er sich keine Gedanken mehr machen. Abends, nach dem Essen, gehe er immer zwei Mal die Küste entlang, aus dem gleichen Grund wie ich: Kalorien abbauen, Gedanken schweifen lassen. Und außerdem redet er immer gerne mit den Ausländern, sagt er.

Ich frage ihn, wie lange man von der Gandhi-Statue bis zu meinem Hotel geht. „Die gleiche Frage hat ein Bürger mal einem Mönch gestellt“, sagt mein neuer Freund. Seine Antwort war gewesen: Das hängt von der Gehgeschwindigkeit ab – eine fernöstliche Weisheit, wie man sie sich im Westen wünscht. Wir starren auf den Vollmond und lauschen dem Rauschen der Wellen, eine Herde Büffel zieht gemächlich vorbei. Mein neuer Freund lacht: „Bei uns gibt es eine Redewendung: Du bist langsam wie ein Büffel.“ Auch ich grinse – der Büffel braucht wohl länger von der Gandhi-Statue bis zu meinem Hotel.

Ich bin müde. Zwar wohne ich gleich um die Ecke, doch ich spaziere mit ihm noch mit ihm zu seinem Moped – nach Eigenangabe besitzt er drei dieser Art. Dann setze ich mich auf seinen Rücksitz, und wir düsen die Küste entlang zurück zu meinem Hotel – freilich ohne Helm, denn wir sind zwar in einer frankophilen Stadt, aber noch lange nicht in Europa.

Pondicherry: Das indische Guadeloupe

Wer mit dem Bus nach Pondicherry fährt, der entdeckt zu Beginn keinen großen Unterschied zwischen hier und Chennai: In beiden Städten gibt es Dreck, verstopfte Straßen, schlechte Luft – erst wer sich dann eine Rikscha in das französische Viertel nimmt, der entdeckt die wahre Schönheit dieser Stadt. Hier findet nämlich das Beste dreier Welten zusammen: Deutsche Sauberkeit, französisches Essen und indische Gastfreundschaft – das ist deutlich besser als etwa eine Mischung aus deutschem Essen, indischer Sauberkeit und französischer Gastfreundschaft wäre.

Ad Sauberkeit fällt mir gleich am Abend meiner Ankunft auf, dass jede Nacht der Dreck an der Strandpromenade gekehrt wird; und auch ansonsten ist das Viertel ordentlich und gut gepflegt: Vom Zyklon, der die Stadt nur wenige Wochen zuvor heimgesucht hatte, ist außer ein paar Bäumen im gepflegten Park nicht mehr viel zu sehen. Aber die Kombination aus Essen und Gastfreundschaft machen Pondy erst wirklich so liebenswert: Im Cafe des Artes bekomme ich vom freundlichen indischen Inhaber meine Crepes mit echtem Kaffee und Milchschaum serviert, während ich das WLAN nutze, um Skype-Konferenzen zu führen, zu recherchieren oder Artikel nachhause zu schicken; gleich gegenüber ist ein Restaurant, das mich beim Vorbeigehen ebenfalls anspricht: In Sachen Einrichtung treffen hier hinduistische Skulpturen, Sperrmüll-Möbel und moderne Kunst aufeinander – der Inhaber selbst ist ein Inder, der jahrelang in Frankreich gelebt hat.

Eines Abends mache ich es mir in seinem Restaurant bequem. Ich trage einen schwarzen Rollkragenpulli gegen den Küstenwind und habe meinen Laptop dabei, hämmere eifrig in die Tasten. „Sind Sie ein Schriftsteller?“ fragt er mich. Ich zögere: Journalist? Schriftsteller? Lifestyle-Designer? Die Grenzen sind fließend. „Ja“, sage ich daher: „Ich schreibe gerade an meinem ersten Buch. Über Indien, meine Reise, die neue Mittelklasse, die Digitalisierung der Gesellschaft und so.“ Er wirkt interessiert und fragt mich, wie genau ich „Mittelklasse“ definiere – meine Antwort geht unter, da er von einem weiteren Gast mit etlichen Bussis begrüßt wird; in kleinen Häppchen führen wir unser Gespräch fort. Ich bestelle mir noch ein Bier und genieße die Gesellschaft, die deutlich angenehmer ist als die Kakerlaken in Chennai.

Dann geh ich heim. In ein Hotelzimmer, für das ich 1500 Rupien bezahle – mit Fernseher, Klimaanlage, keinen Kakerlaken oder Moskitos, aber dafür einem Balkon mit Blick auf den Strand. Ich schaue noch ein wenig fern, bevor mich der Schlaf übermannt. Die kommenden Tage verbringe ich fast ausschließlich auf einer Fläche von weniger als einem Quadratkilometer: Aufstehen, Crepes oder Croque Monsieur zum Frühstück im französischen Café, Schreiben auf dem Balkon mit Blick auf das Meer, zum Abendessen eine Pasta und anschließend noch Flanieren am Strand – dies alles unter strahlend blauem Himmel, bei tosenden Wellen im Hintergrund, inmitten malerischer französischer Kolonialarchitektur. „Liebe Grüße aus Guadeloupe“, schreibe ich daher meinen Eltern in einer Email – und fühle mich nicht wirklich wie in Indien, sondern viel mehr in der französischen Karibik.