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Zug

Ein Moment: Ein Lächeln ohne Beine

Der Zug zwischen Chennai und Coimbatore hält an einer Station, die in keinem ausländischen Reiseführer vermerkt ist. Auf dem Bahnsteig stehen ausschließlich Inder; Händler preisen lauthals ihre Waren von Birjani über Wasser bis hin zu Kugelschreibern an, eine LED-Tafel heißt Besucher und vorbei fahrende Züge herzlich willkommen. Und über den Bahnsteig kriecht ein Mann. An seinen Händen hat er Hausschuhe befestigt; denn mit den Armen bewegt er sich fort, die Beine zieht er lediglich hinter sich her – wie ein Tier wirkt der Mensch durch seine Gehbehinderung in seiner Haltung; Geld für Krücken oder einen Rollstuhl hat er wohl nicht. Ich betrachte ihn mitleidig. Und er lächelt mich mit glühenden Augen an, als sei sein fürchterlicher Zustand nur halb so wild.

Ein Moment: Im Schnellzug

Die Öffentlichen Verkehrsmittel Mumbais wirken auf Ausländer meist abschreckend; uns läuft es kalt den Rücken herunter, wenn wir die Menschen sehen, wie sie aus den Türen der Züge heraus hängen, weil scheinbar drinnen kein Platz ist. Was die Wenigsten ahnen: Das ist ein Trugschluss. Denn zumindest in der Ersten Klasse ist meist genug Platz – und die Fahrgäste schauen nur deswegen aus der Tür raus, weil die Aussicht so schön ist.

Und drinnen dann: Da versuche ich, ein Gespräch zu führen. Geht aber nicht, weil Alle um mich herum beschäftigt sind – mit dem Lesen von SMS, dem Schreiben von Emails, und zwei junge Inder neben mir spielen abwechselnd auf einem Tablet-PC das Spiel „Angry Birds“ – die Geräuschkulisse aus fliegenden Vögeln und explodierenden Schweinen ergänzt das Rattern des Zuges im Sonnenuntergang.

Ein Moment: Auf den billigen Plätzen

Im Zug von Mumbai nach Neral, Zweite Klasse: Es ist früh morgens, und die Sonne geht gerade über den Dächern der vorbei ziehenden Häuser auf. Bei einem Blick aus dem Fenster des ratternden Zuges kann der Fahrgast beobachten, wie der Feuerball neben Wohnhäusern auch Tempel und Moscheen in ein goldenes Licht taucht.

Im Abteil ist es gedrängt. Klimaanlage gibt es in der Zweiten Klasse keine, und alle Sitzplätze sind besetzt. Händler bahnen sich ihren Weg durch die Bänke, verkaufen für lächerlich geringe Beträge Kaffee, Tee und Frühstück aller Art.

Neben mir sitzt ein Mann, Mitte 40. Er schläft auf seinem Sitzplatz, Kopf nach hinten gekippt, mit offenem Mund. Bis es in seiner Hose läutet und vibriert. Dann holt er sein Smartphone aus der Hosentasche und liest mit verschlafenem Blick das Offert eines US-amerikanischen Unternehmens zu verschiedenen Maschinen. Das Mail der Amerikaner ist sehr sachlich und formell. Er antwortet: „What u think?“. Dann schläft er weiter und überlässt dem Key Account Manager in den USA die Entscheidung, welche Maschine den Weg in die indische Fabrik findet.

Der Zug rumpelt. Der Manager schnarcht. Es riecht nach Urin.