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Mittelklasse

Indischer Mittelklasse-Alltag

Der Wolf ist zu Besuch. Gemeinsam nehmen wir eine Rikscha vom Hub zum Bahnhof in Khar, futtern noch etwas in meinem Lieblings-Straßenlokal. Dann spazieren wir los: Vorbei am Sikh-Tempel, wo die bärtigen Männer mit den Turbanen sitzen, vorbei am vermeintlichen Strip-Club, vorbei am Bambusstab-Tuch-Gestell, in dem die Männer Karambol spielen – „Das ist wirklich eine schräge Gegend“, sagt der Wolf; und ich entgegne: „Wir sind zuhause.“

Wir sitzen in meinem Wohnzimmer auf den gemütlichen Sofas und trinken Löskaffee. „Wie hast Du den Feiertag verbracht?“, fragt mich der Wolf.

Am Feiertag vergangene Woche hatte ich versucht, etwas zu unternehmen. Ich war in die Hanging Gardens im Süden der Stadt gefahren und dort ein wenig spaziert. Dann war ich am Chowpatty Beach gewesen und habe dort die Menschen beobachtet, wie sie Fahnen schwenken im Sonnenuntergang.

„Und dann bin ich zurück gefahren in meine Wohnung“, sage ich dem Wolf: „Dort habe ich mich auf das Sofa gelümmelt, den Fernseher eingeschaltet und mich den ganzen Tag durch die Kanäle geschaltet – es lief nur Schrott, aber ich habe mir dann einfach irgendeinen komischen Bollywood-Film angeschaut, um meine Freizeit tot zu schlagen.“ Der Wolf steht auf und umarmt mich: „Ich bin stolz auf Dich“, flüstert er: „Nun bist Du ein echter Mittelklasse-Inder geworden.“ Abendliches Fernsehen ist in Indien unabdingbare Mittelklasse-Alltagskultur.

Mittelklasse-Inder am Strand

Grob lassen sich die Zielgruppen des Goa-Tourismus in zwei Regionen verteilen: Im Norden finden sich – so vernahm ich zumindest aus Erzählungen – wilde Techno-Partys voll rauschender Drogen und freier Liebe, bzw. emotional unbedeutendem Sex, was entsprechend die junge Party-Generation anzieht; im Süden hingegen geht es deutlich ruhiger zu: Hier werden spätestens um Mitternacht die Strandpromenaden hoch geklappt; man genießt die Ruhe, das saubere Meer, die Palmen und die Sonne – hier finden sich hauptsächlich Familien mit kleinen Kindern, Pärchen und Pensionisten. Und junge Inder aus der Mittelklasse.

Diese sind mit vollem Enthusiasmus dabei, wenn es um das Strandleben geht. Einmal wird die Ruhe etwa vom Freudenschrei eines jungen Mannes unterbrochen, der begeistert ins Meer hinein läuft und sich in die Wellen wirft – er gibt sich keine Mühe, seine Erektion zu verbergen; seine Freunde folgen ihm johlend.

Ein beliebter Sport ist zudem das Auf-die-Felsen-klettern-und-Fotos-machen: Gestern noch saß die Meute aus jungen Programmierern im Großraumbüro Bangalores vor dem Laptop, nun sind sie schon Kletter-Weltmeister und schwingen sich von Felsen zu Felsen, um sich in möglichst laszive Posen zu werfen und von den Kumpanen ablichten zu lassen.

Eine Kuh steht am Strand und schaut dem Treiben gelassen zu.

Sie kaut.

Währenddessen brennt die Sonne weiter hinunter, und jenseits der Felsen, am weißen Sandstrand, werden die Bademoden der Saison präsentiert: Der Herr von heute trägt entweder alles oder fast nichts, heißt die Devise. Das bedeutet: Entweder in jenen knappen Hosen über den weißen Sand hechten, die schon Ende der 80er Jahre langsam an Coolness zu verlieren begannen – oder selbst beim Schwimmen noch ein T-Shirt tragen, um sich die mühsam in zahlreichen Bürostunden heran gezüchtete helle Hautfarbe bei zu behalten… ja, es stimmt: Helle Haut ist in Indien attraktiver als braungebrannte. Klingt komisch, ist aber so.

Daneben: Westliche Touristinnen im String-Tanga.

Etwas abseits hat ein Pärchen Platz genommen, im Schatten eines Felsens, der durch ein AOM-Zeichen geziert wird. Ein junger Inder bemerkt uns; er ist alleine, trägt eine lange Hose, ein Hemd, und um die Schulter eine Aktentasche. Uns erzählt er, dass er alleine aus Rajasthan gekommen ist, um hier Urlaub zu machen; während er uns die Hände schüttelt, filmt er den Prozess des Kennenlernens mit seinem Handy.

Dann wird er angerufen, die Arbeit ruft; und wir gehen schwimmen. Das Wasser ist warm.