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Indien

Ein Moment: Slum-Tour

Der alternative Reiseveranstalter „Reality Tours and Travel“ veranstaltet Besichtigungen von Dharavi, einem der größten Slums Asiens. Ziel der Tour ist, gängige Klischees abzubauen und das wirtschaftliche Zusammenspiel im Slum zu erklären. Die Tour ist jedem Bombay-Reisenden zu empfehlen, obwohl sie im Lonely Planet angeführt ist.

Was ich dort sehe, fasziniert mich: In Wellblechhütten wird Plastik sortiert, geschmolzen, in eine neue Form gegeben, um es dann weiter zu verkaufen; in Betonhäusern leben ganze Familien auf einer Fläche, die kleiner ist als mein Schlafzimmer – zwischen den Bauten sind Gänge mit weniger als einem Meter Durchmesser, in die das Sonnenlicht nicht hervor dringt.

Als wir den übelsten Teil des Slums verlassen, stehen wir wieder auf einer größeren Straße. „Nun sind wir in einem besseren Teil des Slums“, sagt der Leiter der Tour. Ich schaue mich um: Autorikschas kämpfen sich durch die Straße und hupen, ein alter Mann trägt einen Sack mit 50 Kilo Gewicht auf seinem Kopf barfuß durch die Straße, vor einer Bankfiliale schläft ein Wachmann, aus einem Vodafone-Shop rülpst ein Geschäftsmann, eine Kuh kaut und schaut blöd in die Luft. „Das soll ein Ghetto sein?“, murmele ich: „Das sieht doch genauso aus wie meine Nachbarschaft in Khar.“ Macht mich das automatisch zu einem Slumdog?

Devdutt – ein Mythologe deckt auf

Meine bisherige Erfahrung hat gezeigt: Es ist in Indien nicht gerade leicht, an Termine zu gelangen. Häufig wird auf Emails nicht geantwortet; oder es werden mögliche Termine genannt, die in weiter Ferne liegen – ist der Tag X dann schließlich da, kommt doch in letzter Minute  noch etwas dazwischen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt und mich adaptiert: Ich weiß nun, dass ich nie das bekomme, was ich mir eigentlich wünsche – jedoch ist die Ersatzlösung manchmal gar besser als mein ursprünglicher Plan. Einen Menschen aber, den will ich in Bombay auf jeden Fall treffen: Den Mythologen Devdutt Pattanaik. Er hat bereits etliche Bücher über Hinduismus geschrieben, ist gefragter Redner auf Konferenzen und Trainer für Unternehmen, die in Indien Geschäft machen wollen. Sein Konzept ist, hinduistische Mythen zu dekodieren und so auf das heutige Verhalten zu schließen – niemand kann das Wechselspiel zwischen indischer Religion und Kultur also so gut erklären wie er.

In meiner typisch westlichen Art schreibe ich ihm ein Email. Nur um kurz darauf eine Antwort zu bekommen: „Rufen Sie mich an“. Als ich am nächsten Morgen seine Nummer wähle, sagt er, er sei gerade bei der Haji Ali Moschee, ich solle doch in einer halben Stunde von Khar aus dorthin kommen. „Kein Problem“, sage ich und lege auf. Fünf Sekunden später klingelt mein Handy, es ist Devdutt: „Planänderung. Ich muss in mein Büro. Ich kann Sie direkt in Khar treffen.“ Okay, sage ich, und spaziere Richtung Khar-Bahnhof. Auf dem Weg ruft er mich wieder an, wo wir uns nun genau treffen – die Verbindung ist schlecht, auf beiden Seiten tönt der omnipräsente Straßenlärm. Mit Müh und Not vereinbaren wir, uns direkt vor dem Bahnhofsgebäude zu treffen.

Dort angekommen, gehen wir frühstücken. Ich sitze mit dem berühmtesten Mythologen Indiens in meinem Stamm-Straßenlokal in Khar und esse ein Idli Vada. Es kostet 50 Rupien, und er übernimmt die Rechnung. Dann setzen wir uns in sein Auto, und sein Fahrer chauffiert uns zu seinem Büro – die Fahrt dauert rund eine Stunde, und während dieser Zeit darf ich das Interview mit ihm führen.

Die Situation ist bezeichnend für das, was Devdutt mir im Lauf des Gesprächs erläutert: Die Inder sind eine orale Kultur. Es ist ungewiss, wie alt der Hinduismus selbst eigentlich ist, denn zu Beginn wurde er lediglich mündlich in den Tempeln von Generation zu Generation weiter gegeben. Erst als die Engländer nach Indien kamen, definierten sie die Rig Veda als das erste Buch des Hinduismus – denn die Europäer hatten Bedarf an einem geschriebenen Regelwerk; den Indern hingegen war das wurscht, sie kamen mit der mündlichen Überlieferung schon ganz gut klar – und entsprechend werden Termine lieber telefonisch ausgemacht als per Email. „Wir glauben, dass Reden Probleme lösen“, sagt Devdutt mir: „Verträge hingegen können gebrochen werden.“

Außerdem hat mir allein schon das Treffen mit ihm gezeigt: Inder hassen Planung, sie improvisieren lieber in letzter Minute. „Wir glauben, dass jeder Moment aus einem Menschen in einer Situation besteht“, sagt er. Und Menschen verhalten sich unterschiedlich in einem anderen Umfeld, genau wie sie jeweils die andere Situation beeinflussen. Stimmt: Die Autofahrt wäre für ihn wohl anders, wenn ich nicht dabei wäre. „Und ein Stefan in Wien ist wohl anders als ein Stefan in Indien“, sagt er. Stimmt ebenfalls: Ich trage eine Kurta, habe mich in den letzten Monaten immer mehr der indischen Kultur angepasst. In Wien werde ich wohl wieder T-Shirt und Jeans tragen. „Und entsprechend, weil sich eh alles ändert, planen Inder so ungern“, sagt Devdutt. Dann zeigt er aus dem Fenster seines Autos, es ist eine typische Straßensituation in Bombay: Ein Motorradfahrer fährt ohne Helm gegen die Einbahn, Fußgänger überqueren bei starkem Verkehr die Straße, es wird gehupt und geschimpft, eine Kuh und ein paar Straßenköter betrachten das Treiben gelangweilt. „In Deutschland haben Sie Regeln, an die sich jeder hält, damit keine Unfälle passieren“, sagt Devdutt: „In Indien macht Jeder die Regeln selbst, passend zu seinem jeweiligen Umfeld.“ Hinduismus hat keine festgeschrieben Regeln und kein religiöses Oberhaupt – im Gegensatz zum Christentum, das sich an Papst und Bibel klammert. „Entsprechend“, so Devdutt, „ist auch die Hare Krishna-Bewegung mit ihren strengen
Regeln und dem Klammern an die Bhagavad Gita mehr eine westliche als eine indische Institution.“ Ich denke an die kahlgeschorenen Typen, die mantrasingend jeden Sommer über Wiens Mariahilfer Straße hüpfen und muss lächeln.

Schließlich erreichen wir sein Büro und das Gespräch ist beendet. „Wie alt sind Sie eigentlich?“, fragt er mich. „29. Dies ist mein letztes großes Abenteuer, bevor ich in ein paar Wochen 30 werde“, entgegne ich. Er lächelt: „Seltsam. Ich habe mir Deutsche immer als große, blonde Menschen vorgestellt – aber sie sind klein und schmächtig.“ Ich lächle zurück. Devdutt ist ein echt netter Kerl. Und wenigstens, so denke ich mir, müssen wir Deutschen in Hinblick auf unsere Körpergröße keinen fest vorgeschriebenen Regeln folgen.

Wie ich an meine Wohnung in Khar kam

Wohnen in Bombay ist teuer, und gute Wohnungen sind schwer zu haben – nicht sehr viel einfacher wird die Situation für urbane Business-Nomaden, die von Ort zu Ort reisen, um permanent auf der Suche nach dem nächsten Kulturschock zwar nirgendwo sesshaft zu sein, aber überall eine Antwort zu suchen. In anderen Städten gibt es Orte für solche Menschen – etwa das Jaaga in Bangalore oder das Moonlighting in Delhi -, aber ausgerechnet in der Business-Metropole Bombay finden sich keine Co-Living-Spaces für die selbständige Wissensarbeiter-Generation des 21. Jahrhunderts. Und als ich das dritte Mal in die hektische Großstadt zurück kehre, rätsle ich: In das katholische Zuhause, in dem ich mich im Dezember eine Bleibe gefunden habe, ist aktuell kein Platz für mich; und in ein Hotel – wie bei meiner Ankunft zu Beginn dieser Reise – möchte ich auch nicht ziehen… was also tun?

Die Antwort gibt ein Pathologe. Am Flughafen von Trivandrum hatte ich mir noch ein paar Comics von ACK gekauft – in diesen werden in bildlicher Form indischen Kindern hinduistische Mythen nahe gebracht. Mein Sitznachbar im Flugzeug fragt freundlich, ob er sich ein Exemplar der „Gita“ ausleihen kann, und so sitzen wir nebeneinander: Er liest über die Weisheiten Krishnas rund um Dharma und Yoga, während ich mich über Kali informiere, die ja im Ashram mein Ego hätte zerstören sollen – ein vergeblicher Versuch.

Nach der Lektüre kommen wir ins Diskutieren: Die Gita, so mein Sitznachbar, lässt sich in Comicform schwer darstellen, denn es handelt sich ja eigentlich bloß um einen Dialog zwischen zwei Protagonisten – kriegerische Epen, wie etwa die „Ramayana“ rund um Dämonen, eine hübsche Frau und eine Affenarmee, geben da schon deutlich mehr her. Ich gebe ihm Recht, und er stellt sich vor: Er sei Pathologe und arbeite in einem Krankenhaus in Bandra. „Interessant, dort habe ich auch ein paar Wochen gelebt“, sage ich. Und nach kurzem Zögern frage ich ihn, ob er zufällig jemand kennt, der günstig ein Zimmer in Khar zu vergeben hat Er willigt ein, sich umzuhören.

Am nächsten Tag erhalte ich eine SMS von meinem Flugzeug-Sitznachbarn: Freunde vergeben eine Wohnung – zwar nicht direkt in Bandra, aber in Khar West, welches gleich an den hippen Vorstadt-Bezirk angrenzt. Ich rufe den Kontakt an und frage nach der Miethöhe: „Erst müssen sie sich die Wohnung ansehen und zusagen“, sagt er: „Dann sage ich Ihnen, wie viel sie kostet.“ Etwas ungewöhnlich, aber das Absurde ist in Indien ja normal. Also fahre ich nach Khar – dort komme ich eine Stunde zu spät an, weil ich in den falschen Zug gestiegen bin. Doch auch dies wird in Indien problemlos akzeptiert – der Verkehr kann als Entschuldigung für alles herhalten.

Die Wohnung ist schön: 30 Quadratmeter, Erdgeschoss, Marmorboden; mit Küche, Bad, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Satellitenfernsehen. Ich könnte sie für mich alleine haben, also selbständig eine Wohnung haben und das indische Mittelklasse-Leben in Khar West leben – täglich kommt eine Putzfrau, die sogar mein Geschirr für mich abwäscht. Warum also nicht? „Wenn Sie zusagen, dass sie die Wohnung nehmen, fragen wir in der Nachbarschaftsgemeinschaft um Erlaubnis“, sagt mein zukünftiger Vermieter: „Anschließend können wir Ihnen den Mietzins mitteilen und alles fixieren.“ Ich versichere, dass ich ein braver katholischer Junge bin und abends niemals ausgehe. Ich rauche nicht, trinke nicht und esse kein Fleisch – Indien ist ein Land der Opportunisten, und in dieser Hinsicht habe ich mich schon recht gut angepasst.

Am Abend dann ein Anruf: Ja, die Gemeinde hat zugestimmt; ich kann die Wohnung haben. Hurra. Als ich schließlich zur Schlüsselübergabe komme, gibt es nur noch eine Kleinigkeit: Ich muss ein Schreiben unterzeichnen, dass ich bloß temporär hier lebe und ein Freund seiner Tochter bin, die in den USA studiert. Eine Mithilfe zur Steuerhinterziehung also. Ich erwarte nicht, dass ich für meinen Mietzins – der höher ist als bei einem langfristigen Mietverhältnis, aber weit billiger als ein Hotel – eine Rechnung erhalte. Aber wenigstens habe ich jetzt ein Dach über dem Kopf.

Ein Moment: Verflossene Liebe

Im neuen Jahr sitzt ein Pärchen am Strand und schaut verträumt aufs Meer hinaus. Noch ist Ebbe, doch bald – mit der Abenddämmerung – wird die Flut kommen. In einem Anfall aus Romantik beschließen sie, eine Sandburg in Herz-Form zu bauen; dann fotografieren sie sich selbst mit ihrem Gebilde aus zehn Zentimeter hohen Sandmauern.

Doch das Meer ist stärker. Nicht lange dauert es, bis die Gewalt der Wellen gegen das Manifest der Liebe brettert – und da das Konstrukt auf Sand gebaut ist, verfällt es schon bald wie eine verblühte Blume zu Herbstbeginn. Händchenhaltend beobachten sie, wie ihre Liebe im Abendrot zerfließt.

Dann kommt ein Straßenköter und markiert sein Revier, indem er hechelnd gegen die Trümmer strullert.

Opfer eines Verbrechens

Sonne, Strand, Wärme, nette Menschen – doch das Verbrechen schläft nie. Klar ist man sich dessen bewusst, und man ist auch entsprechend vorsichtig: Kreditkarte und größere Mengen Geld werden ebenso zuhause gelassen wie der Laptop und eventuell sogar das Handy – und wer clever ist, der kauft sich für einen Strandurlaub eine wasserdichte Kamera, die er mit ins Meer nehmen kann. Kurz gesagt: Als wir schwimmen gehen, lassen wir wenig am Strand zurück. Und dennoch werden wir Opfern eines Verbrechens.

Denn bei der Rückkehr muss ich feststellen, dass meine Sonnenbrille ebenso verschwunden ist wie meine Flip-Flops – beide habe ich bei einer bekannten deutschen Klamotten-Kette mit zwei Buchstaben erstanden, den Gesamtwert schätze ich also auf rund 15 Euro. Ärgerlich ist es trotzdem, denn erstens sind meine Augen daraufhin nicht mehr vor der Sonne geschützt; und zweitens schreiben wir den 31.12.2011 – ich tanze also ungewollt, aber dennoch einem dieser klischeehaften Goa-Hippies gleich, barfuß ins Neue Jahr.

Naja. Wenigstens hat man nicht meine Hose gestohlen. Eine FKK-Feier zu Silvester wäre dann wohl doch einen Schritt zu weit gegangen.

Mittelklasse-Inder am Strand

Grob lassen sich die Zielgruppen des Goa-Tourismus in zwei Regionen verteilen: Im Norden finden sich – so vernahm ich zumindest aus Erzählungen – wilde Techno-Partys voll rauschender Drogen und freier Liebe, bzw. emotional unbedeutendem Sex, was entsprechend die junge Party-Generation anzieht; im Süden hingegen geht es deutlich ruhiger zu: Hier werden spätestens um Mitternacht die Strandpromenaden hoch geklappt; man genießt die Ruhe, das saubere Meer, die Palmen und die Sonne – hier finden sich hauptsächlich Familien mit kleinen Kindern, Pärchen und Pensionisten. Und junge Inder aus der Mittelklasse.

Diese sind mit vollem Enthusiasmus dabei, wenn es um das Strandleben geht. Einmal wird die Ruhe etwa vom Freudenschrei eines jungen Mannes unterbrochen, der begeistert ins Meer hinein läuft und sich in die Wellen wirft – er gibt sich keine Mühe, seine Erektion zu verbergen; seine Freunde folgen ihm johlend.

Ein beliebter Sport ist zudem das Auf-die-Felsen-klettern-und-Fotos-machen: Gestern noch saß die Meute aus jungen Programmierern im Großraumbüro Bangalores vor dem Laptop, nun sind sie schon Kletter-Weltmeister und schwingen sich von Felsen zu Felsen, um sich in möglichst laszive Posen zu werfen und von den Kumpanen ablichten zu lassen.

Eine Kuh steht am Strand und schaut dem Treiben gelassen zu.

Sie kaut.

Währenddessen brennt die Sonne weiter hinunter, und jenseits der Felsen, am weißen Sandstrand, werden die Bademoden der Saison präsentiert: Der Herr von heute trägt entweder alles oder fast nichts, heißt die Devise. Das bedeutet: Entweder in jenen knappen Hosen über den weißen Sand hechten, die schon Ende der 80er Jahre langsam an Coolness zu verlieren begannen – oder selbst beim Schwimmen noch ein T-Shirt tragen, um sich die mühsam in zahlreichen Bürostunden heran gezüchtete helle Hautfarbe bei zu behalten… ja, es stimmt: Helle Haut ist in Indien attraktiver als braungebrannte. Klingt komisch, ist aber so.

Daneben: Westliche Touristinnen im String-Tanga.

Etwas abseits hat ein Pärchen Platz genommen, im Schatten eines Felsens, der durch ein AOM-Zeichen geziert wird. Ein junger Inder bemerkt uns; er ist alleine, trägt eine lange Hose, ein Hemd, und um die Schulter eine Aktentasche. Uns erzählt er, dass er alleine aus Rajasthan gekommen ist, um hier Urlaub zu machen; während er uns die Hände schüttelt, filmt er den Prozess des Kennenlernens mit seinem Handy.

Dann wird er angerufen, die Arbeit ruft; und wir gehen schwimmen. Das Wasser ist warm.