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Die Welt | the world

Mittelklasse-Inder am Strand

Grob lassen sich die Zielgruppen des Goa-Tourismus in zwei Regionen verteilen: Im Norden finden sich – so vernahm ich zumindest aus Erzählungen – wilde Techno-Partys voll rauschender Drogen und freier Liebe, bzw. emotional unbedeutendem Sex, was entsprechend die junge Party-Generation anzieht; im Süden hingegen geht es deutlich ruhiger zu: Hier werden spätestens um Mitternacht die Strandpromenaden hoch geklappt; man genießt die Ruhe, das saubere Meer, die Palmen und die Sonne – hier finden sich hauptsächlich Familien mit kleinen Kindern, Pärchen und Pensionisten. Und junge Inder aus der Mittelklasse.

Diese sind mit vollem Enthusiasmus dabei, wenn es um das Strandleben geht. Einmal wird die Ruhe etwa vom Freudenschrei eines jungen Mannes unterbrochen, der begeistert ins Meer hinein läuft und sich in die Wellen wirft – er gibt sich keine Mühe, seine Erektion zu verbergen; seine Freunde folgen ihm johlend.

Ein beliebter Sport ist zudem das Auf-die-Felsen-klettern-und-Fotos-machen: Gestern noch saß die Meute aus jungen Programmierern im Großraumbüro Bangalores vor dem Laptop, nun sind sie schon Kletter-Weltmeister und schwingen sich von Felsen zu Felsen, um sich in möglichst laszive Posen zu werfen und von den Kumpanen ablichten zu lassen.

Eine Kuh steht am Strand und schaut dem Treiben gelassen zu.

Sie kaut.

Währenddessen brennt die Sonne weiter hinunter, und jenseits der Felsen, am weißen Sandstrand, werden die Bademoden der Saison präsentiert: Der Herr von heute trägt entweder alles oder fast nichts, heißt die Devise. Das bedeutet: Entweder in jenen knappen Hosen über den weißen Sand hechten, die schon Ende der 80er Jahre langsam an Coolness zu verlieren begannen – oder selbst beim Schwimmen noch ein T-Shirt tragen, um sich die mühsam in zahlreichen Bürostunden heran gezüchtete helle Hautfarbe bei zu behalten… ja, es stimmt: Helle Haut ist in Indien attraktiver als braungebrannte. Klingt komisch, ist aber so.

Daneben: Westliche Touristinnen im String-Tanga.

Etwas abseits hat ein Pärchen Platz genommen, im Schatten eines Felsens, der durch ein AOM-Zeichen geziert wird. Ein junger Inder bemerkt uns; er ist alleine, trägt eine lange Hose, ein Hemd, und um die Schulter eine Aktentasche. Uns erzählt er, dass er alleine aus Rajasthan gekommen ist, um hier Urlaub zu machen; während er uns die Hände schüttelt, filmt er den Prozess des Kennenlernens mit seinem Handy.

Dann wird er angerufen, die Arbeit ruft; und wir gehen schwimmen. Das Wasser ist warm.

Ein Moment: Ankunft in Goa

Ausstieg aus dem Flugzeug auf dem Flughafen von Goa, der viel zu klein ist für die Massen an Passagieren, die er mittlerweile bewältigen muss – Goa ist ein beliebtes Reiseziel geworden, und zwar für junge Möchtegern-Hippies und -Aussteiger ebenso wie für die bereits einheimischen Althippies und diverse Pensionisten, die ihr Geld im warmen Süden lassen wollen. Und natürlich die indischen Mittelklasse-Familien, die nun ausreichend verdienen und sich entsprechend ebenfalls einen Urlaub am Meer gönnen wollen.

Das Gepäckförderband ist ein weltweites Unikat: Es ist im Design einer Roulettescheibe gehalten, die einzelnen Stücke sind abwechselnd in rot und schwarz gehalten, sowie mit Zahlen beschriftet – hier wirbt ein Casino bereits während der Wartezeit der Touristen um potentielle Kunden. Im Hintergrund spielt eine Band ein Willkommensständchen. Sie tragen Sombreros, das vorherrschende Instrument ist eine Ukulele.

Will Goa das neue Antalya werden?

Heiligabend im Mahalakshmi-Tempel

Zu Weihnachten ist meine Familie zu Besuch – Schwester, ihr Verlobter, Mutter und Vater – und wir sind allesamt katholisch in einem Hindu-Land. Was bietet sich also mehr an als ein Ausflug zum Mahalakshmi-Tempel, dem größten Tempel Mumbais?

Gewidmet ist er – so lehrt es zumindest die Heilige Schrift des Lonely Planet – der Wohlstandsgöttin Lakshmi. Wer allerdings etwas tiefer gräbt, stellt bald fest: Da sitzen noch zwei andere Göttinnen auf dem Podest, nämlich die permanent wütende Kali und die Göttin der Weisheit, Saraswati. Aber so weit muss man erst mal kommen.

Denn wer von der Hauptverkehrsstraße aus das Tempelgelände betritt, der muss sich auf dem Weg zum zentralen Heiligtum zuerst einen Weg bahnen: Durch Menschenmassen, an Shops vorbei, die  Räucherwaren ebenso verkaufen wie Süßigkeiten, Souvenirs und Schuhe. Ein Shop verkauft auch kleine schwarze Figuren einer mythischen Figur. Ich frage den Händler, um welche Inkarnation es handle und bekomme die Antwort: „20 Rupies“. Ob das wohl ein Verwandter Lakshmis ist?

Dann kommt irgendwann der Punkt, an dem auch Katholiken dem hinduistischen Tempelbrauch nicht mehr entkommen: Schuhe ausziehen. Securities achten mit wachsamen Augen darauf, dass Jeder den Tempelbereich mit bloßen Füssen betritt – die Schuhe können nach dem Besuch verlässlich beim Wachmann wieder abgeholt werden. Außerdem werden beim Besuch des Tempels Damen und Herren akribisch getrennt, um den weiblichen Gläubigen den Zugang zum Tempel zu erleichtern – was aber wurscht ist, denn geschubst, gedrängelt und gedrückt wird sowieso.

Wer sich dann barfuß in einer Warteschlange wiederfindet, die mit ihren Wirrungen und Biegungen mehr an einen Vergnügungspark erinnert als an ein Heiligtum, irgendwo zwischen schwitzenden Hindus, die von hinten drängeln und vorne nicht weiter gehen wollen, der kann beobachten, wie das 21. Jahrhundert auch in der Religion Einzug gefunden hat: Im Wartebereich sind LCD-Screens angebracht, die die Stauen der drei Göttinnen zeigen – besonders Gläubige bewegen bereits hier stumm ihre Lippen, erwartend den Fernseher anbetend.

Das Heiligtum selbst ist dann vergleichsweise fad: Gläubige schwenken ihre Opfergaben und legen sie vor den Statuen ab, wo sie eifrig von den Pandits entfernt werden um Platz für weitere Kokosnüsse und Blumen zu machen. Hinter Lakshmis Rücken können dann noch Saris erstanden werden; und auf dem Rückweg kauft sich meine Schwester einen Ring um ein paar Rupies.

Am Abend wird die Familie dann hinduistisch beschenkt: Eine Messingstatue von Saraswati, der Göttin der Weisheit, für meine Mutter, Lakshmi, die Göttin des Geldes, für meinen hart arbeitenden Vater und ein elefantenköpfiger Ganesh, Entferner aller Schwierigkeiten, für meine Schwester. Ob ich an die Macht dieser Götter glaube? So halb. Klar sind wir als echte Katholiken skeptisch – aber immerhin zeigt die Praxis, dass die Händler im unmittelbaren Umfeld der Geld-Göttin gutes Geld verdienen.

Ein Moment: Im Schnellzug

Die Öffentlichen Verkehrsmittel Mumbais wirken auf Ausländer meist abschreckend; uns läuft es kalt den Rücken herunter, wenn wir die Menschen sehen, wie sie aus den Türen der Züge heraus hängen, weil scheinbar drinnen kein Platz ist. Was die Wenigsten ahnen: Das ist ein Trugschluss. Denn zumindest in der Ersten Klasse ist meist genug Platz – und die Fahrgäste schauen nur deswegen aus der Tür raus, weil die Aussicht so schön ist.

Und drinnen dann: Da versuche ich, ein Gespräch zu führen. Geht aber nicht, weil Alle um mich herum beschäftigt sind – mit dem Lesen von SMS, dem Schreiben von Emails, und zwei junge Inder neben mir spielen abwechselnd auf einem Tablet-PC das Spiel „Angry Birds“ – die Geräuschkulisse aus fliegenden Vögeln und explodierenden Schweinen ergänzt das Rattern des Zuges im Sonnenuntergang.

Ein Moment: Bauernschnäuzer

In Indien passiert es recht rasch, dass man sich eine Erkältung einfängt – bei 35 Grad Außentemperatur mag das absurd klingen, ist aber ein Faktum, zumal man stets zwischen den Welten hin- und herspringt, sich von einer heiß-feuchten Straße direkt in ein auf Arktis-Niveau herunter gekühltes Fünf-Sterne-Hotel begibt. Ich niese nicht selten.

In Europa führt dann der erste Weg zu einem Supermarkt, wo Taschentücher erstanden werden. In Indien gibt es in den Supermärkten Binden und Windeln, aber keine Taschentücher. Und in den Apotheken, da ist man vielleicht erfolgreich, aber nicht unbedingt. Wie wird das Rotz-Problem also gelöst?

Ort des Geschehens: Ein Hotel in Kemps Corner, Bombay. Davor steht ein junger Inder, er trägt eine Anzughose und ein Hemd. Dann niest er auf die Straße. Und anschließend führt er seine Hände zur Nase, rotzt genüsslich hinein und verteilt das Ergebnis durch Wedeln der Hände auf der Straße.

Die Wichtigkeit von Taschentüchern wird überbewertet.

Ein Moment: Rinderwahnsinn

Man ahnt nichts Böses auf dem Weg ins Büro. Denn so Vieles ist ja schon so normal geworden – das indische Normal halt, mit seinem typischen Straßenbild: Händler verkaufen Obst, Rikschas flitzen rücksichtslos durch das Getümmel, ein Mann spuckt auf die Straße, ein Straßenkehrer kratzt sich an den Eiern, ein Jugendlicher singt aus voller Kehle einen Bollywood-Ohrwurm, zwei Straßenköter schauen sich fragend an, ob sie sich heute paaren sollen.

Dann: Eine Kuh. Und noch eine. Und eine dritte. Normalerweise stehen sie gelangweilt auf der Straße, kauen ein wenig Gras, blockieren den Verkehr und schauen blöd drein. Diesmal aber nicht: Die eine Kuh jagt die andere, und die dritte jagt die zweite. Und sie rennen auf den ahnungslosen Passanten zu. Fast haben sie mich erwischt, ich kann mich gerade noch hinter einen Karren retten.

Die Kühe hechten weiter die Straße entlang, eine vierte Kuh trottet als Nachzügler noch hinterher. Dann ist es wieder still am Ort des Geschehens. Jemand singt einen Bollywood-Ohrwurm.