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Die Welt | the world

Schutzmaßnahmen gegen Moskitos, Wanzen und Kakerlaken

Meine letzte Nacht in Chennai verbringe ich nochmals in einer Billig-Unterkunft. Das bedeutet: Schutzmaßnahmen ergreifen, gegen allerlei Ungetier. Bedingt durch meine vorherige Erfahrung bin ich nun schlauer; und ich weiß, was ich tun muss:

  1. Gleich nach dem Einchecken schalte ich die Klimaanlage an. Ich stelle sie auf die kälteste Stufe (15 Grad) und lasse sie den ganzen Tag laufen.
  2. Bei meinem abendlichen Eintreffen liegen bereits etliche Moskitos erfroren auf meinem Bett. Aber ich gehe auf Nummer Sicher: Ich spraye das gesamte Zimmer ab, vor allem die Vorhänge – dort verstecken sich gerne die Kakerlaken.
  3. Dann spraye ich Moskito-Schutz auf meinen gesamten Körper.
  4. Ich ziehe eine lange Hose und ein langärmliges Hemd an, sodass keinerlei Untier an meine Gliedmaßen kommt.
  5. Ich krieche in meinen Schlafsack, schließe ihn bis zum Hals und achte darauf, dass meine Arme unmöglich das sicher mit Wanzen verseuchte Bett berühren können.

Und siehe da: Am nächsten Tag wache ich tatsächlich unversehrt auf. Na bitte, geht doch. Bandagiert in meine Alltagskleidung krieche ich aus meinem Schlafsack wie eine untote Mumie aus ihrem Sarkophag. Kurz darauf verlasse ich Chennai glücklich und fahre mit dem Zug Richtung Industriemetropole Coimbatore.

Eine Kleinigkeit

Ach, verdammt: Arbeiten muss ich ja auch ab und zu. Denn mit irgendeinem Geld muss ja die Reise eines urbanen Business-Nomaden finanziert werden. Und so begebe ich mich in Chennai nochmals ins Start-Up Center, um dort ein paar Artikel in die Tasten zu klopfen und nach Österreich zu schicken – dabei geht es um ein potentielles Handelsabkommen zwischen Indien und der Europäischen Union. Recherchieren, Schreiben und Verschicken kann ich ja zum Glück überall auf der Welt, solange ich einen Laptop und einen Internet-Zugang habe; und das Start-Up Center ist trotz seiner seltsamen „Dawn oft he Dead“-Atmosphäre dafür bestens geeignet.

Dann zieht es mich zum Knüpfen potenziell interessanter Kontakte noch auf eine Messe rund um das Thema Wasser. Diese findet im „Chennai Trade Center“ statt – ein Ort, den keiner meiner Bekannten, Freunde und Office-Kollegen kennt, der aber laut Google Places „eines der besten Messe-Zentren Asiens“ ist. Nun ja, dann lasse ich mich mal überraschen.

Die Anfahrt dauert ewig. Der Autorikscha-Fahrer will freilich kein Taxameter verwenden, weshalb wir länger verhandeln – schließlich bugsiert er mich doch eine Stunde lang durch den Verkehr, vorbei an hupenden und stinkenden Autos.

Einmal angekommen sorgt das weite Gelände am Stadtrand für eine positive Überraschung: Hier ist es ruhig, und sauber – mit vielen Grünflächen, gut gepflegten Hecken und Bäumen; der Besucher schaltet automatisch einen Gang herunter, atmet durch, wird entspannt, flaniert – vorbei an Sicherheitsmännern, Gärtnern und viel Grün – in Richtung Messehalle.

Und auch dort, alles schön: Hinter einem Springbrunnen, der leise dahin plätschert erhebt sich die Halle; am Eingangsbereich funktioniert die Registrierung problemlos – ich erhalte Unterlagen und ein Namensschild und betrete das Gebäude. Dort sammle ich Visitenkarten ein, teile hier und da auch selbst eine aus – und auch das eine oder andere Gespräch führe ich mit interessanten Unternehmen aus der Wasserwirtschaft. Filterung, Lagerung und Verteilung von Wasser – es wird wirklich kein Themenbereich ausgelassen.

Nur eine Kleinigkeit, die gäbe es da halt: Die Entsorgung. Schade, dass der Architekt bei der Planung der Hallen die Toiletten vergessen hat. Wirklich schade. Aber man kann ja nicht alles haben.

Zurück in den Tempel, in dem er geboren wurde

Die Bekannten wohnen in einer Villa am Stadtrand Chennais. Sie sind Deutsche, die aus beruflichen Gründen hier leben; nachdem sie einige Zeit lang eine Unterkunft im Zentrum der Stadt ausprobiert hatten, sind sie an den Stadtrand gezogen – hier ist zwar alles etwas rustikaler, aber dafür bleibt man vom Lärm der Großstadt verschont.

Ich komme an, werde freudig begrüßt und kann mich duschen – immerhin bin ich schon länger unterwegs heute, habe vor einem Kristall meditiert, einen Koffer zerstört und eine längere Autofahrt zurück gelegt. Anschließend gibt es zum Abendessen deutsche Rouladen und Kartoffelbrei. Draußen arbeiten die Bediensteten, füllen gerade den Pool mit neuem Wasser. Auf den antiken Möbelstücken stehen altertümliche Steinstatuen verschiedener hinduistischer Götter und Dämonen, die mit gedämmtem Licht angestrahlt werden.

Oberflächlich betrachtet wecken solche Bilder Neid, wenn sie im westlichen Fernsehen gezeigt werden. Dann ist immer davon die Rede, wie dekadent westliche Expats und Diplomaten im Ausland leben, welch große Häuser sie bewohnen und wie viel sie verdienen. Selten werden in solchen Fernsehreportagen die Widrigkeiten erwähnt: Meine Bekannten erzählen etwa, dass sie vor weniger Wochen drei Tage lang keinen elektrischen Strom hatten – während Zuhause wohl eine Revolution ausbrechen würde, wenn die Menschen nicht auf ihre tägliche Portion „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ kommen, müssen sich Expats und Diplomaten halt irgendwie arrangieren.

Und dann stellen sie fest, dass der Hund weg gelaufen ist; scheinbar hat einer der Gärtner das Tor offen gelassen. Das Tier gehört zur Familie, stammt aber ursprünglich aus der näheren Umgebung. „Wenn das Tor offen ist, läuft er immer weg und kommt dann später zurück“, sagt mir die Frau kopfschüttelnd: „Er kehrt dann zurück in den Tempel, in dem er geboren wurde.“ Das klingt vorerst romantisch und mystisch, ist es aber nicht: Lange nach Einbruch der Dunkelheit ist das vierbeinige Familienmitglied wieder da, wedelt freudig mit dem Schwanz – und stinkt bestialisch nach Kloake. Er hatte sich offensichtlich im Dreck gesuhlt. Als Strafe gibt es Liebesentzug und keine Kuscheleinheiten mehr für den restlichen Tag.

Wir trinken noch ein wenig deutschen Rotwein, und dann lege ich mich schlafen. Still im Bett liegend – so ganz ohne Tinitus – lasse ich die vergangen Tage, Wochen und Monate Revue passieren: Vielfältig war es, auf jeden Fall. Ich habe bei Kakerlaken geschlafen ebenso wie in einer teuren Villa am Stadtrand; ich habe meditiert, gearbeitet und gefeiert. Noch zu Beginn des Tages war ich vor dem größten makellosen Kristall der Welt gesessen, dazwischen habe ich altertümliche Tempel besichtigt und nun liege ich in einem warmen Bett, trunken mit deutschem Rotwein – wieder mal bereue ich nicht, nach Indien gekommen zu sein. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlafe ich ein.

Mit dem Auto durch Indien

Nun muss ich also mit meinem kaputten Koffer irgendwie von Mahabalipuram an den Stadtrand von Chennai kommen, wo Bekannte ein Haus besitzen und ich für eine Nacht unterkommen kann, bevor ich meine Reise fortsetze. Öffentliche Verkehrsmittel bringen mich höchstens in das Zentrum Chennais, und so brauche ich ein Auto. Vor dem größten Tempel der Stadt spreche ich daher den Fahrer eines weißen Ambassador – stilvolle indische Oldtimer – an, ob er mich an mein Ziel fahren könne. Das genaue Ziel wisse ich nicht, aber ein Anruf bei den Bekannten und Google Maps werden uns schon den Weg weisen.

Er verlangt rund 1000 Rupien, und wir düsen gemeinsam in seinem weißen Oldtimer durch die südindische Landschaft – immer an der Küste entlang, zu unserer rechten Seite das Meer. Die Straßen sind außerordentlich gut, merke ich an. Er nickt. Ob er oft Touristen in andere Städte fahre? „Ja“, sagt er. Einen Europäer habe er gar quer durch Indien gefahren, bis nach Bombay rauf, und dazwischen hätten sie immer wieder Halt an unterschiedlichen Orten gemacht, die der Gast sehen wollte. Gekostet hat das 3000 Rupien pro Nacht, plus Benzin, Essen und Unterkunft.

Ich denke an den kaputten Koffer im hinteren Teil des Wagens und stelle fest, dass diese Idee gar nicht mal so schlecht ist: Zwar ist die Reise teurer als mit dem Zug, aber billiger als Fliegen – und deutlich angenehmer, da keine Verkehrsmittel gewechselt werden müssen, lästige Security-Checks entfallen. Zudem ist man deutlich flexibler und erreicht Orte, die mit Zügen und Bussen nur schwer, mit dem Flugzeug überhaupt nicht erreichbar sind. Wirklich Sinn macht das aber erst mit zwei oder drei Mitreisenden – denn so können die Kosten aufgeteilt werden.

Ich mache mir selbst eine geistige Notiz, dass ich dieses Abenteuer zu einem späteren Zeitpunkt in meinem Leben noch nachholen möchte.

Koffer-GAU, Teil 1: Mahabalipuram

Nächste Mission: Von Pondicherry zurück nach Chennai fahren – aber nicht ohne unterwegs einen Halt bei den antiken Tempeln von Mahabalipuram gemacht zu haben. Ähnlich wie in Elephanta – der Insel nahe Mumbai – finden sich hier in die Felsen gehauene Abbilder zahlreicher Hindu-Götter. Um dies zu besichtigen, nehme ich auch Schwierigkeiten in Kauf: Der kleine Rollkoffer, der mich auf meiner Reise begleitet, wird über Stock und Stein gezogen und gezerrt.

Ein junger Mann spricht mich an. Ich weise ihn zuerst barsch zurück; doch er versichert mir, dass er kein Guide ist, sondern dass er lediglich seine Englischkenntnisse über möchte. Also gut, denke ich: Ich bin ohnehin alleine unterwegs und entsprechend einsam – warum also nicht? Er führt mich durch das Gelände, erklärt mir die einzelnen Orte und ihre historische Bedeutung, während ich stets den Koffer über die Felsen zerre.

Am Ende kommt dann doch das Verkaufsgespräch: Er sei eigentlich Steinmetz-Lehrling, und er habe einen innovativen Ganesh aus Stein gehauen; den solle ich mir in seinem Shop ansehen. Die Steinmetz-Branche floriert in Mahabalipuram; denn wer schon alte Stein-Götter bewundert, der hat wohl auch gegen neue nichts einzuwenden. Und da er mich ohnehin so freundlich herum geführt hat, sehe ich mir das Werk in seinem Shop an.

Enttäuscht werde ich nicht: Er hat keinen normalen Ganesh in sitzender Position aus dem Stein geschlagen, sondern einen, der in entspannter Position vor einem Computer liegt. Auf dem Bildschirm des Geräts ist ein Apfel abgebildet. Kein Zweifel: Das ist ein Business-Ganesh. Der elefantenköpfige Gott, der als Entferner aller Probleme und somit als Universallösung für alles gilt, kann in dieser Form mich vor Viren, Trojanern und Spam-Mails beschützen. „Nächstes Jahr mache ich dann einen Cricket-Ganesh“, sagt der Junge stolz. Ich kaufe ihm die circa faustgroße Statue lächelnd ab, bedanke mich und mache mich wieder auf den Weg.

Circa eine Stunde später hebe ich bei der Besichtigung eines weiteren Tempels den Koffer an – es macht „Rumms“, der Henkel des Gepäcks reißt ab und es fällt zu Boden. Grummelnd hebe ich es wieder auf: Hätte ich doch bloß einen Gepäck-Ganesh statt eines Business-Ganesh gekauft, dann wäre das nicht passiert. Aber man kann wohl nicht alles haben, und so setze ich meine Reise unbeirrt fort.

Ich höre das Om

Wie vereinbart treffe ich Mauna am nächsten Morgen an den Toren des Matrimandir. Wir passieren den Security-Check, wo sie mich als ihren Gast registriert, und betreten den Garten, der das gewaltige Bauwerk umgibt. Hier führen verschlungene Pfade hin zu der goldenen Kugel, vorbei an Dingen, die für sich selbst genommen schon etwas Besonderes sind – etwa ein Banyan-Baum, dessen Zweige sich majestätisch in den Boden senken, um von dort erneut zu sprießen; den Durchmesser der Blattkrone würde ich auf 20 bis 30 Meter schätzen. Gärtner arbeiten fleißig an der Bewässerung der Rasenflächen, die Sonne des Südens brennt bereits am frühen Morgen auf das Gelände herunter.

Dann erreichen wird die goldene Kugel, die im Sonnenlicht schimmert und glänzt. Unter ihr befindet sich ein kleiner Teich – auf ihn fällt Sonnenlicht, das in ein Loch am Dach der Kugel eindringt, durch den berühmten Kristall hindurch fällt und schließlich am Boden der Kogel wieder austritt, um das Gewässer zu erleuchten. Das Wasserspiel hat die Form einer Lotusblüte, und das kühle Nass plätschert beruhigend dahin.

Zum Betreten der riesigen Kugel – dem spirituellen Zentrum Aurovilles – muss ich meine schwarzen Socken gegen weiße eintauschen. Nicht etwa aus religiösen Gründen, wie mir Mauna erklärt – sondern weil die schwarzen Socken Spuren hinterlassen würden. Das finde ich zuerst etwas zimperlich, doch als ich das Innere des Heiligtums betrete, verstehe ich, was gemeint ist: Die Teppiche sind hier weiß, die Wände aus weißem Marmor, die Geländer aus Glas, die Farblosigkeit des Raums wird unterbrochen von Silber. Menschen sind komplett in weiße Gewänder gekleidet; sie bewegen sich schweigend und gemächlich an Wendeltreppen im Stil eines Gemäldes von M. C. Escher hinauf zum oberen Teil der Kugel. Wäre ich süffisant, so würde ich sagen: Das Gesamtbild wirkt so, wie man sich in den 60er-Jahren die Zukunft vorgestellt hat. Aber eigentlich ist Süffisanz hier nicht angebracht; der Ort strahlt tatsächlich eine magische Energie aus, religiöse Symbole sind übrigens nicht zu finden.

Oben angekommen, sehe ich den Kristall. Es ist eine Kugel, die von oben durch einfallendes Sonnenlicht erleuchtet wird; wie magisch scheint er zu schweben und zu strahlen. Drum herum sitzen Menschen im Schneidersitz auf weißem Teppichboden vor den weißen, gebogenen Wänden der Halbkugel; sie meditieren. Und auch wir haben nun eine halbe Stunde Zeit dafür. Ich setze mich also hin, schließe die Augen und atme bewusst, um mich auf ein anderes spirituelles Level zu bewegen.

Es will mir nicht gelingen.

Denn im Ashram war es zwar ruhig, aber nicht vollkommen still gewesen – hier hingegen herrscht vollkommene Geräuschlosigkeit außerhalb meines Körpers; und dadurch höre ich, wovor ich mich die vergangenen Monate öfters gefürchtet hatte: Ein leises, permanentes Fiepen in meinen Ohren. Oh Schreck, denke ich mir: Ein Tinitus. Wie lange ich ihn wohl schon habe? Vielleicht schon seit Bangalore? Und ich habe ihn bloß nie wahrgenommen, weil es in Indien stets so laut war? Ist es nun zu spät für schulmedizinische Hilfe? Werde ich mein Leben lang dieses Fiepen im Ohr tragen? „Reg Dich ab, konzentriere Dich auf die Meditation“, sagt ein anderer Teil in meinem Körper: „Das ist eine einmalige Chance, ignoriere das Fiepen jetzt einfach.“ Der verängstigte, westliche Teil meines Gehirns streitet sich anschließend lauthals mit dem spirituellen Teil, der einfach nur in Ruhe vor dem größten makellosen Kristall der Welt meditieren will – und dieser Tumult in meinem Kopf tut mir gar nicht gut, ich fühle mich unzufrieden und komme auf keinen grünen Zweig. Und dann – blink, blink – leuchtet schon ein Licht auf, das den Meditierenden das Ende der halben Stunde einläutet. Wir stehen auf und verlassen die Kugel.

Zurück im Garten erkläre ich Mauna mein Problem: „Ich fürchte, ich habe seit Monaten einen Tinitus, und ich habe es erst jetzt – in der Stille – bemerkt“, jammere ich. Sie schaut mich mit großen Augen an und fragt: „War das ein hoher, gleichbleibender Ton?“. Ich bejahe, und sie lacht: „Das war kein Tinitus, das war das OM!“ Der heilige Ton also, der das Universum erfasst? Ich habe meine Zweifel, bin aber höflich. Ich sage ihr, dass ich das wohl falsch verstanden habe; und sie meint lediglich, das beruhe halt auf meiner westlichen Sichtweise. Irgendwie meine ich, zwischen den Zeilen ihrer Aussage ein „Du Trottel“ vernehmen zu können; ich hätte mich auf den Ton konzentrieren sollen und mit ihm meditieren, statt ihn zu ignorieren, sagt sie.

Naja. Ich zweifle die Aussage weiterhin für mich selbst an und nehme mir vor, in Österreich zu einem Arzt zu schauen, solle das Problem weiter bestehen – vermutlich, so fürchte ich, werde ich es wohl in den kommenden Wochen noch weiter hören. Ich verabschiede mich freundlich und fahre mit dem Auto weiter; zuerst nach Mahabalipuram, und dann weiter nach Chennai.

Am Abend des gleichen Tages liege ich in einem Bett, am Stadtrand von Chennai; und es ist totenstill. Komplett still. Mein vermeintlicher Tinitus, so stelle ich erstaunt fest, ist verschwunden.