Stefan Mey

Zurück in den Tempel, in dem er geboren wurde

Die Bekannten wohnen in einer Villa am Stadtrand Chennais. Sie sind Deutsche, die aus beruflichen Gründen hier leben; nachdem sie einige Zeit lang eine Unterkunft im Zentrum der Stadt ausprobiert hatten, sind sie an den Stadtrand gezogen – hier ist zwar alles etwas rustikaler, aber dafür bleibt man vom Lärm der Großstadt verschont.

Ich komme an, werde freudig begrüßt und kann mich duschen – immerhin bin ich schon länger unterwegs heute, habe vor einem Kristall meditiert, einen Koffer zerstört und eine längere Autofahrt zurück gelegt. Anschließend gibt es zum Abendessen deutsche Rouladen und Kartoffelbrei. Draußen arbeiten die Bediensteten, füllen gerade den Pool mit neuem Wasser. Auf den antiken Möbelstücken stehen altertümliche Steinstatuen verschiedener hinduistischer Götter und Dämonen, die mit gedämmtem Licht angestrahlt werden.

Oberflächlich betrachtet wecken solche Bilder Neid, wenn sie im westlichen Fernsehen gezeigt werden. Dann ist immer davon die Rede, wie dekadent westliche Expats und Diplomaten im Ausland leben, welch große Häuser sie bewohnen und wie viel sie verdienen. Selten werden in solchen Fernsehreportagen die Widrigkeiten erwähnt: Meine Bekannten erzählen etwa, dass sie vor weniger Wochen drei Tage lang keinen elektrischen Strom hatten – während Zuhause wohl eine Revolution ausbrechen würde, wenn die Menschen nicht auf ihre tägliche Portion „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ kommen, müssen sich Expats und Diplomaten halt irgendwie arrangieren.

Und dann stellen sie fest, dass der Hund weg gelaufen ist; scheinbar hat einer der Gärtner das Tor offen gelassen. Das Tier gehört zur Familie, stammt aber ursprünglich aus der näheren Umgebung. „Wenn das Tor offen ist, läuft er immer weg und kommt dann später zurück“, sagt mir die Frau kopfschüttelnd: „Er kehrt dann zurück in den Tempel, in dem er geboren wurde.“ Das klingt vorerst romantisch und mystisch, ist es aber nicht: Lange nach Einbruch der Dunkelheit ist das vierbeinige Familienmitglied wieder da, wedelt freudig mit dem Schwanz – und stinkt bestialisch nach Kloake. Er hatte sich offensichtlich im Dreck gesuhlt. Als Strafe gibt es Liebesentzug und keine Kuscheleinheiten mehr für den restlichen Tag.

Wir trinken noch ein wenig deutschen Rotwein, und dann lege ich mich schlafen. Still im Bett liegend – so ganz ohne Tinitus – lasse ich die vergangen Tage, Wochen und Monate Revue passieren: Vielfältig war es, auf jeden Fall. Ich habe bei Kakerlaken geschlafen ebenso wie in einer teuren Villa am Stadtrand; ich habe meditiert, gearbeitet und gefeiert. Noch zu Beginn des Tages war ich vor dem größten makellosen Kristall der Welt gesessen, dazwischen habe ich altertümliche Tempel besichtigt und nun liege ich in einem warmen Bett, trunken mit deutschem Rotwein – wieder mal bereue ich nicht, nach Indien gekommen zu sein. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlafe ich ein.

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