Im Hub gibt es so einen netten Kerl; er hat circa meine schmächtige Statur, trägt meistens T-Shirts mit lustigen Sprüchen drauf und hat einen gewaltigen Schnauzer. Wenn ich nicht gerade in einem Seminar hänge oder mit der Pizza-Frau über Hinduismus philosophiere, witzle ich mit ihm. Irgendwann verlassen wir mal wieder nach einem langen Arbeitstag das Büro; und da die Autorikschas wieder knapp sind, beschließen wir, uns eine zu teilen – eine Gelegenheit, bei der wir feststellen, dass wir eigentlich Beide in Khar leben, in der Nähe des kleinen Bahnhofs. „Heute Nacht gehe ich ohnehin mit meinen Freunden aus“, sagt er: „Wäre schön, wenn Du mit kommst.“ Ich freue mich.
Freilich hat er an besagtem Abend nicht angerufen. Dafür aber am nächsten. Und so eile ich in meiner Kurta zum „WTF?!“, einem der hippen Lokale, in denen sich die indischen Mittelklasse-Bobos Bier um 500 Rupien pro Flasche in die Birne kippen. Der nette Kerl stellt mir seine Freunde vor, mit denen er vor dem Lokal wartet – wir gehen nicht hinein, sondern bewegen uns Richtung Bahnhof.
Um 70 Rupien pro Flasche haben die Jungs große Exemplare von „Kingfisher Strong“ gekauft, und damit gehen wir auf das Bahnhofsgebäude zu. Gemeinsam spazieren wir dann an ein paar Wellblechhütten vorbei und befinden uns kurz darauf auf den Gleisen. Diese gehen wir entlang, während ich mich immer wieder nervös umschaue, ob hinter uns nicht ein Zug sich nähert – bis wir einen Ort finden, der den Jungs gefällt.
Dort sitzen wir dann – an einem Krater, der den angrenzenden Hütten als Müllhalde dient. Wir lassen unsere Füße Richtung Abgrund baumeln, von wo wir recht oft ein lautes Quieken vernehmen: Die Ratten sind aktiv; und die Schatten, die über das entsorgte Plastik huschen, sind gewaltig. Hinter uns, da rattert indes immer wieder ein Zug vorbei. Die Waggons sind erleuchtet, und Menschen hängen aus den Türen hinaus; sie beobachten uns beim Vorbeifahren, wie wir so da sitzen bei den Ratten und gemeinsam Kingfisher-Bier trinken.
Der nette Kerl aus dem Hub wohnt gleich in der Nähe. „Dort drüben ist die Hindu-Kolonie, ein paar hundert Meter weiter leben die Christen“, erklärt er: „Und auf der anderen Seite, da leben die Moslems.“ Lebhafte Erinnerungen werden wach – von den Ayodya-Unruhen Anfang der 90er-Jahre, als es im ganzen Land auf offener Straße zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Hindus und Moslems kam. „Damals standen die Moslem-Kinder auf den Gleisen und haben mit Steinen auf unsere Häuser geworfen“, erinnert er sich. Wir schweigen.
Sein Freund holt das Handy raus und macht Musik. Das ändert die Stimmung radikal. Er singt mit, jemand anders möchte gerne etwas fetzigeres hören – das Problem ist, dass der Freund soeben von seiner Freundin verlassen wurde und Liebeskummer hat; entsprechend wird seine Playlist aktuell von Schnulzen dominiert. Dem netten Kerl aus dem Hub, der eigentlich einen fetzigen Hindi-Pop hören wollte, hält er sein Handy ans Ohr und beschallt ihn mit Enique Inglesias‘ „Hero“ – ich denke mir, dass ich gegen steuern muss und spiele das Musik-Spiel mit: Meinen iPod fingere ich aus der Tasche und wähle „Bridges Burning“ von den Foo Figthers aus. Das Gerät halte ich an das Ohr des netten Kerls, der folglich von einer Seite mit Enriques weinerlicher Stimme beschallt wird, auf der anderen mit den röhrenden E-Gitarren der Foo Fighters. Er hält sich die Ohren zu, kichert, kippt zurück – schon bald liegen wir nebeneinander lachend neben den Bahngleisen.
Als wir aufbrechen, urinieren meine neuen Freunde noch rasch auf den Platz, an dem wir zuvor noch gemütlich gelegen sind. „Die haben wirklich keine Manieren“, grinst der nette Kerl aus dem Hub. Als der Mann mit dem gebrochenen Herz wieder zu uns stößt klopfen wir ihm auf die Schulter und muntern ihn auf: „Wird schon werden“, ist die erste Plattitüde, die mir einfällt, gleich gefolgt von: „Es gibt genügend andere Frauen in dieser Stadt.“
Dann gehen wir noch zu dem indischen Äquivalent dessen, was man in Deutschland als „Pommesbude“ bezeichnet, in Wien als „Würstlstand“: Ein Straßenlokal, in dem die Autorikscha-Fahrer noch rasch die letzte Mahlzeit zu sich nehmen, bevor sie heimfahren. Wir bestellen eine Suppe; und es ist das schärfste, was ich bisher in Indien gegessen habe. Die Jungs zahlen die Rechnung, und wir gehen alle heim.
Als ich dann zuhause mit schwerem Kopf in meinem Bett liege, denke ich mir: Das ist eigentlich nicht anders als bei mir zuhause in Wien. Auch wir würden uns Bier kaufen, vielleicht ein wenig Musik mitnehmen und uns dann auf einer Wiese sitzend bis spät in die Nacht unterhalten. In Bombay gibt es halt nicht viele Wiesen, und daher müssen die mit Ratten verseuchten Bahngleise herhalten – aber generell, wirklich, ist das Prinzip der Abendgestaltung das gleiche. Khar wird mehr und mehr ein neues Zuhause für mich.