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Vertragsbruch

Offener Brief an die Ärztekammer

Liebe Ärztinnen und Ärzte,

hoch verehrte Lebensretterinnen und Lebensretter!

Ein bisschen Sorgen mache ich mir schon, muss ich ehrlich zugeben. Vor allem, weil ich vor kurzem so einen seltsamen Fleck auf meinem Bauch erkannt habe. Ja, richtig: Ein Fleck, auf meinem Bauch. Er war plötzlich da, und jetzt geht er nicht mehr weg. Ich weiß nicht genau, was das zu bedeuten hat… Vielleicht Hautkrebs? Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht bin ich einfach nur ein Hypochonder. Vielleicht ist es bloß ein Pickel. Aber andererseits: Wer weiß das schon?

Ach ja, stimmt, ich vergaß: Ihr wisst das.

Aber ehrlich gesagt traue ich mich nicht mehr so wirklich, Euch einen Besuch abzustatten. Nach den Ereignissen der letzten Monate und Wochen; vor allem der Aussagen, die ihr Euch heute erlaubt habt. Dass Ihr zum Beispiel lieber das Land verlasst (wohin eigentlich? Urlaub? Wie schön!) und Euch vor Diskussionen drückt, statt uns eine medizinische Grundversorgung in Österreich zu garantieren. Und, dass Ihr die wenigen unter Euch, die sich noch zu einer Behandlung der prekarisierten Leistungsträger – ja, haha! Das sind wir! – bereit erklären, also… dass ihr sogar gegen diese rechtliche Einwände aufbringen wollt, enttäuscht mich zutiefst.

Zugegeben, meine Erwartungen an das System sind nicht mehr sonderlich hoch.

Ich habe mich daran gewöhnt, dass knapp die Hälfte meines Einkommens für Steuern und Sozialversicherung drauf gehen. Auch daran, dass ich von diesem Geld nichts jemals wieder sehen werde. Wird es das Pensionssystem noch geben, wenn ich alt bin? Vermutlich nicht. Aber zahlen darf ich dafür trotzdem. Werde ich an so genannten „Zivilisationskrankheiten“ leiden? Ja. Warum? Weil ich deutlich mehr arbeite als ein Angestellter mit einem 9-to-5-Job, als Gegenleistung dafür aber auch keinerlei Arbeitslosenversicherung habe.

Aber das betrifft Euch ja nur peripher.

Nur: Warum müsst Ihr uns jetzt auch noch unsere medizinische Grundversorgung weg nehmen? Ist es wirklich nötig, dass rund 410.000 Anspruchberechtigte der SVA – rund fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung! – auf das Niveau eines Entwicklungslands zurück fallen?

Gewiss, man kann alles relativieren: Wir können ja zum Arzt gehen und das Geld vorstrecken; die SVA begleicht einen Bruchteil davon ein paar Wochen (ich rechne eher mit Monaten) später. Eine solche Vorstellung ist realistisch, wenn man einen Industriekonzern führt oder die Technik des Kot-zu-Gold-Verwandelns beherrscht. Ich, offen gesagt, gehöre keiner der beiden Gruppen an; und in meinem Bekanntenkreis – in dem sich viele Unternehmer finden – gibt es ebenfalls nur wenige Industrielle. Ganz im Gegenteil: 60 Prozent der SVA-Versicherten verdienen unter 1000 Euro im Monat, nicht wenige sind prekarisierte, so genannte „Neue Selbständige“.

Und genau von denen, habe ich das richtig verstanden, wollt Ihr nun noch mehr Geld haben? Obwohl sie ohnehin schon mehr zahlen als die arbeitslos-versicherten, 9-to-5-arbeitenden, kündigungsgeschützten Angestellten? Wow. Da kann ich mich wirklich nur noch wiederholen: WOW. Eine Frage, liebe Ärztinnen und Ärzte: Schämt Ihr Euch eigentlich nicht für ein derart unmenschliches Verhalten?

Aber was rege ich mich eigentlich auf? Ich bin 28 Jahre alt, männlich, mache Sport und ernähre mich halbwegs gesund. Ich muss mir ja keine Sorgen machen, dass ich schwanger bin und morgen in den Wehen liegen könnte. Oder, dass ich zwei Kinder erhalten muss. Oder, dass ich morgen einen Herzinfarkt habe. Ich bin ja kerngesund.

Aber andererseits… es wird Zeit, diesen Brief zu beenden. Denn meine Magenschmerzen machen sich bemerkbar. Vielleicht ein Magengeschwür, weil ich mich über Euch so sehr aufgeregt habe? Vielleicht. Aber wer weiß das schon? Ach so, stimmt: Ihr. Vielleicht können wir uns das ja irgendwann mal gemeinsam ansehen. Bei einer Visite. Wenn Ihr Euch endlich geeinigt habt. Und ich langsam wieder begonnen habe, Euch zu vertrauen.

Bis dahin verbleibe ich,

mit freundlichen Grüßen,

Mag. (FH) Stefan H. Mey, MA

Stigmatisierter Leistungsträger

PS (31.5.2010, 13:31 Uhr): Ich habe soeben mit meiner Hausärztin telefoniert, zu der ich seit über zehn Jahren ein sehr gutes, fast schon persönliches Verhältnis habe. Sie sagte mir, dass sie von Euch mit Drohbriefen bombardiert wird, dass rechtliche Schritte drohen, falls sie individuell mit der SVA abrechnen sollte. Wie viel Freiheit genießen Eure Mitglieder eigentlich wirklich? Ist das noch Demokratie?

PS (1. Juni, 12:25 Uhr): Nun fordert Ihr Eure Mitglieder also auch gleich auf, unsere ecards überhaupt nicht mehr zu akzeptieren? Das erinnert mich irgendwie an diesen skurrilen Grenzstreit zwischen Mazedonien und Griechenland, bei dem der eine nicht mal den Reisepass des anderen akzeptiert… Auf welchem Level sind wir hier eigentlich?

PS (1. Juni 13:51): Wir werden uns wehren – etwa in Form einer Online-Petition.

PS (2. Juni, 9:51 Uhr): Freilich weiß ich, dass Ihr nicht die alleinige Schuld an der Misere trägt, das müsst Ihr mir glauben. Vor allem der Kommentar eines jungen Arztes (siehe unten) hat mir die Augen geöffnet: Während der Ausbildungszeit verdient Ihr nur doppelt so viel wie der Großteil der SVA-Versicherten (Ihr Armen!), und als Unternehmer hättet Ihr gerne ein fixes, an die Inflation angepasstes Umsatzplus – zur Kenntnis genommen. Um Euch hier entgegen zu kommen, wollte ich heute an und für sich einen offenen Brief an die SVA schreiben. Aber das haben andere schon deutlich besser gemacht, etwa Hannes Treichl.

PS (4. Juni, 14:56 Uhr): Gestern habe ich eine Droh-sms mit dem Inhalt „Sie sollten aufpassen, wenn Sie zum Arzt gehen“ erhalten. Überhaupt entnehme ich dem bisherigen Echo auf diesen Brief, dass er als ein Angriff auf Euren Berufsstand an sich gesehen wird. Das war aber niemals meine Intention. Mir ging es mit dem Brief darum, die Missstände in unserem System aufzuzeigen und auf die prekäre Situation der „Neuen Selbständigen“ hinzuweisen. Dass wir Euch Ärzte im Ernstfall dringend brauchen, das ist mir klar. Und deshalb wünsche ich mir nichts mehr, als dass ÄK und SVA sich endlich einigen – denn ich möchte ebenso wie alle anderen Betroffenen einfach nur wieder zum Arzt gehen können, ohne mir zusätzlich zu meinen gesundheitlichen Sorgen auch noch ökonomische Sorgen machen zu müssen. Ich bitte Euch darum.