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Tempel

Chennai: Das echte Indien

Chennai ist eine Großstadt im numerischen Sinne; denn sie hat viele Einwohner. Doch dieser Ort an Indiens Ostküste unterscheidet sich radikal von anderen indischen Metropolen. Delhi etwa punktet als Hauptstadt mit einer politischen Bedeutung, vielen internationalen Firmen und zumindest teilweise sauberen Straßen; Bombay ist die Finanzmetropole, hat ebenfalls einige internationale Konzerne vorzuweisen, eine gewisse Szene der Social Businesses und definitiv den Ruf als die Stadt mit den wildesten Nächten. Und selbst Bangalore, dieses mit hupenden Rikschas verstopfte Drecksloch, hat seinen Reiz: Hier gibt es eine blühende Szene aus Start-Ups, eine starke Digitalisierung der Gesellschaft, internationale Konzerne und spannende Konferenzen.

Und Chennai? Chennai hat nicht viel. Es gibt eine Automobilindustrie, aber von der bekommt man als flüchtiger Besucher nicht viel zu spüren. Und es gibt einen CoWorking-Space, der aber ganz anders ist als jene in Bangalore, Bombay und Delhi – mehr dazu später. Immerhin: Es gibt viele Tempel. Einen davon schaue ich mir auch an, an meinem ersten Tag in Tamil Nadu.

Dazu treffe ich mich mit einer Tänzerin aus Österreich, die hier in Chennai sich zu klassischem indischen Tanz fortbildet. Wir spazieren durch den Gebäudekomplex, der laut Lonely Planet der prächtigste Tempel der Stadt ist. Bei Ganesh findet gerade ein Pooja statt, und die Gläubigen drängen sich; nebenan – bei seinem Bruder Kartikeya – ist recht wenig los. Geschätzte 90 Prozent der Männer hier tragen einen Schnauzer; und die meisten haben religiöse Markierungen auf der Stirn. Als wir zu einem Seitenflügel kommen, entdecken wir die Tempelkühe; sie sehen sehr entspannt aus.

Dann fahren wir mit der Rikscha zum Strand. Die Rikschafahrer Chennais sind die größten Arschlöcher von allen. Während man in Bombay selbst im schlimmsten Monsun noch immer per Taxameter fahren kann und in Bangalore Angebot und Nachfrage die Berechnung bestimmen – bei Rush-Hour geht es nach Pauschale, zu stilleren Zeiten nach Taxameter -, wissen die Fahrer in Chennai vermutlich nicht mal, wie man dieses Gerät verwendet. Sie besitzen allesamt eines, aber es ist nie eingeschaltet und vermutlich nicht mal angeschlossen. Vor jedem Fahrtantritt muss also beinhart der Preis verhandelt werden – Ausländer schneiden bei diesem Spiel freilich schlecht ab.

Der Strand Chennais – ebenfalls als eines der Highlights angesehen – ist eine Mini-Version des Chowpatty Beach in Bombay. Auch hier gibt es Händler; und auch hier kann man nicht ins Wasser gehen. „Morgens machen die Menschen hier immer Yoga bei Sonnenaufgang“, sagt die Tänzerin. Zumindest das klingt nett.

Wir setzen uns in eines der Lokale; neben uns teilen sich junge Inder der Mittelklasse eine Zigarette. Heimlich. „Diese ganze Stadt ist so konservativ“, sagt mir die Tänzerin. Sie habe ihren Lehrer gefragt, wo sie denn moderneren indischen Tanz lernen könne – „Gehen sie nach London“, war seine Antwort. Wir essen fertig und verabschieden uns voneinander.

Als ich mit der Rikscha zurück in mein kakerlakenverseuchtes Hotel fahre (mehr dazu später), denke ich mir: Das ist noch das echte Indien. Die Rikscha bugsiert sich durch stinkenden, lautenden Straßenverkehr, vorbei an etlichen kleineren Tempeln, aus denen Männer mit bemalter Stirn und gewaltigen Schnauzern treten. Die Sonne geht unter, und kurz darauf werden die Gehsteige hochgeklappt; mir bleibt nur, mich schlafen zu legen.

Chennai. Nicht schön, nicht spannend, nicht interessant. Aber man muss es wohl auch mal gesehen haben.