Zum Inhalt springen

Strand

Eine Begegnung am Strand

Die beste abendliche Zeitbeschäftigung in Pondy ist ein einsamer, romantischer Spaziergang entlang der Strandpromenade. Und weil das Jeder weiß, ist der Spaziergang freilich alles andere als romantisch und einsam, der Weg entlang der tosenden Wellen ist heillos überfüllt. Dennoch: Es gibt nichts Besseres – erst Recht nicht nach einer dicken Portion Pasta.

Während ich meine Verdauung durch Flanieren in Gang bringe, lasse ich meine Gedanken schweifen – und gerade, als ich mal wieder kurz vor einer neuen Erkenntnis über das Leben, das Universum und den ganzen Rest stehe, werde ich – wie in Indien üblich – angesprochen. Ein Mann, gekleidet in Wollmütze und Winterjacke, fragt mich, wo ich her komme. „Deutschland“, sage ich, und suche das Weite. Er folgt mir, und zieht seine Wollmütze vom Schädel – sichtbar wird darunter der Kopf eines rund vierzigjährigen Mannes; ein Schnurrbart und zwei braune Augen lächeln mich freundlich an. „Vermutlich hat Sie meine Wollmütze irritiert“, sagt er: „Die macht Ausländern immer Angst.“

Er stellt sich vor: Ein Beamter in der Stadtplanung ist er; und er besitzt drei Häuser in Pondicherry – über Geld muss er sich keine Gedanken mehr machen. Abends, nach dem Essen, gehe er immer zwei Mal die Küste entlang, aus dem gleichen Grund wie ich: Kalorien abbauen, Gedanken schweifen lassen. Und außerdem redet er immer gerne mit den Ausländern, sagt er.

Ich frage ihn, wie lange man von der Gandhi-Statue bis zu meinem Hotel geht. „Die gleiche Frage hat ein Bürger mal einem Mönch gestellt“, sagt mein neuer Freund. Seine Antwort war gewesen: Das hängt von der Gehgeschwindigkeit ab – eine fernöstliche Weisheit, wie man sie sich im Westen wünscht. Wir starren auf den Vollmond und lauschen dem Rauschen der Wellen, eine Herde Büffel zieht gemächlich vorbei. Mein neuer Freund lacht: „Bei uns gibt es eine Redewendung: Du bist langsam wie ein Büffel.“ Auch ich grinse – der Büffel braucht wohl länger von der Gandhi-Statue bis zu meinem Hotel.

Ich bin müde. Zwar wohne ich gleich um die Ecke, doch ich spaziere mit ihm noch mit ihm zu seinem Moped – nach Eigenangabe besitzt er drei dieser Art. Dann setze ich mich auf seinen Rücksitz, und wir düsen die Küste entlang zurück zu meinem Hotel – freilich ohne Helm, denn wir sind zwar in einer frankophilen Stadt, aber noch lange nicht in Europa.

Chennai: Das echte Indien

Chennai ist eine Großstadt im numerischen Sinne; denn sie hat viele Einwohner. Doch dieser Ort an Indiens Ostküste unterscheidet sich radikal von anderen indischen Metropolen. Delhi etwa punktet als Hauptstadt mit einer politischen Bedeutung, vielen internationalen Firmen und zumindest teilweise sauberen Straßen; Bombay ist die Finanzmetropole, hat ebenfalls einige internationale Konzerne vorzuweisen, eine gewisse Szene der Social Businesses und definitiv den Ruf als die Stadt mit den wildesten Nächten. Und selbst Bangalore, dieses mit hupenden Rikschas verstopfte Drecksloch, hat seinen Reiz: Hier gibt es eine blühende Szene aus Start-Ups, eine starke Digitalisierung der Gesellschaft, internationale Konzerne und spannende Konferenzen.

Und Chennai? Chennai hat nicht viel. Es gibt eine Automobilindustrie, aber von der bekommt man als flüchtiger Besucher nicht viel zu spüren. Und es gibt einen CoWorking-Space, der aber ganz anders ist als jene in Bangalore, Bombay und Delhi – mehr dazu später. Immerhin: Es gibt viele Tempel. Einen davon schaue ich mir auch an, an meinem ersten Tag in Tamil Nadu.

Dazu treffe ich mich mit einer Tänzerin aus Österreich, die hier in Chennai sich zu klassischem indischen Tanz fortbildet. Wir spazieren durch den Gebäudekomplex, der laut Lonely Planet der prächtigste Tempel der Stadt ist. Bei Ganesh findet gerade ein Pooja statt, und die Gläubigen drängen sich; nebenan – bei seinem Bruder Kartikeya – ist recht wenig los. Geschätzte 90 Prozent der Männer hier tragen einen Schnauzer; und die meisten haben religiöse Markierungen auf der Stirn. Als wir zu einem Seitenflügel kommen, entdecken wir die Tempelkühe; sie sehen sehr entspannt aus.

Dann fahren wir mit der Rikscha zum Strand. Die Rikschafahrer Chennais sind die größten Arschlöcher von allen. Während man in Bombay selbst im schlimmsten Monsun noch immer per Taxameter fahren kann und in Bangalore Angebot und Nachfrage die Berechnung bestimmen – bei Rush-Hour geht es nach Pauschale, zu stilleren Zeiten nach Taxameter -, wissen die Fahrer in Chennai vermutlich nicht mal, wie man dieses Gerät verwendet. Sie besitzen allesamt eines, aber es ist nie eingeschaltet und vermutlich nicht mal angeschlossen. Vor jedem Fahrtantritt muss also beinhart der Preis verhandelt werden – Ausländer schneiden bei diesem Spiel freilich schlecht ab.

Der Strand Chennais – ebenfalls als eines der Highlights angesehen – ist eine Mini-Version des Chowpatty Beach in Bombay. Auch hier gibt es Händler; und auch hier kann man nicht ins Wasser gehen. „Morgens machen die Menschen hier immer Yoga bei Sonnenaufgang“, sagt die Tänzerin. Zumindest das klingt nett.

Wir setzen uns in eines der Lokale; neben uns teilen sich junge Inder der Mittelklasse eine Zigarette. Heimlich. „Diese ganze Stadt ist so konservativ“, sagt mir die Tänzerin. Sie habe ihren Lehrer gefragt, wo sie denn moderneren indischen Tanz lernen könne – „Gehen sie nach London“, war seine Antwort. Wir essen fertig und verabschieden uns voneinander.

Als ich mit der Rikscha zurück in mein kakerlakenverseuchtes Hotel fahre (mehr dazu später), denke ich mir: Das ist noch das echte Indien. Die Rikscha bugsiert sich durch stinkenden, lautenden Straßenverkehr, vorbei an etlichen kleineren Tempeln, aus denen Männer mit bemalter Stirn und gewaltigen Schnauzern treten. Die Sonne geht unter, und kurz darauf werden die Gehsteige hochgeklappt; mir bleibt nur, mich schlafen zu legen.

Chennai. Nicht schön, nicht spannend, nicht interessant. Aber man muss es wohl auch mal gesehen haben.

Ein Moment: Verflossene Liebe

Im neuen Jahr sitzt ein Pärchen am Strand und schaut verträumt aufs Meer hinaus. Noch ist Ebbe, doch bald – mit der Abenddämmerung – wird die Flut kommen. In einem Anfall aus Romantik beschließen sie, eine Sandburg in Herz-Form zu bauen; dann fotografieren sie sich selbst mit ihrem Gebilde aus zehn Zentimeter hohen Sandmauern.

Doch das Meer ist stärker. Nicht lange dauert es, bis die Gewalt der Wellen gegen das Manifest der Liebe brettert – und da das Konstrukt auf Sand gebaut ist, verfällt es schon bald wie eine verblühte Blume zu Herbstbeginn. Händchenhaltend beobachten sie, wie ihre Liebe im Abendrot zerfließt.

Dann kommt ein Straßenköter und markiert sein Revier, indem er hechelnd gegen die Trümmer strullert.

Mittelklasse-Inder am Strand

Grob lassen sich die Zielgruppen des Goa-Tourismus in zwei Regionen verteilen: Im Norden finden sich – so vernahm ich zumindest aus Erzählungen – wilde Techno-Partys voll rauschender Drogen und freier Liebe, bzw. emotional unbedeutendem Sex, was entsprechend die junge Party-Generation anzieht; im Süden hingegen geht es deutlich ruhiger zu: Hier werden spätestens um Mitternacht die Strandpromenaden hoch geklappt; man genießt die Ruhe, das saubere Meer, die Palmen und die Sonne – hier finden sich hauptsächlich Familien mit kleinen Kindern, Pärchen und Pensionisten. Und junge Inder aus der Mittelklasse.

Diese sind mit vollem Enthusiasmus dabei, wenn es um das Strandleben geht. Einmal wird die Ruhe etwa vom Freudenschrei eines jungen Mannes unterbrochen, der begeistert ins Meer hinein läuft und sich in die Wellen wirft – er gibt sich keine Mühe, seine Erektion zu verbergen; seine Freunde folgen ihm johlend.

Ein beliebter Sport ist zudem das Auf-die-Felsen-klettern-und-Fotos-machen: Gestern noch saß die Meute aus jungen Programmierern im Großraumbüro Bangalores vor dem Laptop, nun sind sie schon Kletter-Weltmeister und schwingen sich von Felsen zu Felsen, um sich in möglichst laszive Posen zu werfen und von den Kumpanen ablichten zu lassen.

Eine Kuh steht am Strand und schaut dem Treiben gelassen zu.

Sie kaut.

Währenddessen brennt die Sonne weiter hinunter, und jenseits der Felsen, am weißen Sandstrand, werden die Bademoden der Saison präsentiert: Der Herr von heute trägt entweder alles oder fast nichts, heißt die Devise. Das bedeutet: Entweder in jenen knappen Hosen über den weißen Sand hechten, die schon Ende der 80er Jahre langsam an Coolness zu verlieren begannen – oder selbst beim Schwimmen noch ein T-Shirt tragen, um sich die mühsam in zahlreichen Bürostunden heran gezüchtete helle Hautfarbe bei zu behalten… ja, es stimmt: Helle Haut ist in Indien attraktiver als braungebrannte. Klingt komisch, ist aber so.

Daneben: Westliche Touristinnen im String-Tanga.

Etwas abseits hat ein Pärchen Platz genommen, im Schatten eines Felsens, der durch ein AOM-Zeichen geziert wird. Ein junger Inder bemerkt uns; er ist alleine, trägt eine lange Hose, ein Hemd, und um die Schulter eine Aktentasche. Uns erzählt er, dass er alleine aus Rajasthan gekommen ist, um hier Urlaub zu machen; während er uns die Hände schüttelt, filmt er den Prozess des Kennenlernens mit seinem Handy.

Dann wird er angerufen, die Arbeit ruft; und wir gehen schwimmen. Das Wasser ist warm.