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REM

Indische Rockmusik

Mumbai ist bekannt für sein lebendiges Nachtleben – wobei „lebendig“ in Relation zum Rest des Landes gesehen werden muss: In Bangalore werden bereits vor Mitternacht die Gehsteige hochgeklappt, und Delhi hat auch eher das Image einer Beamten-Hochburg als das einer kosmopoliten Bobo-Metropole. Meine ersten Erfahrungen mit dem Nachtleben Mumbais vor einigen Wochen waren eher enttäuschend – völlig überteuerte Bierpreise in heillos überlaufenen Lokalen -, weshalb ich mich abends lieber mit einem guten Buch zurück zog, anstatt die Straßen unsicher zu machen. Gestern aber gab es im „Bluefrog“ ein Benefiz-Konzert für Dharavi, das größte Slum Asiens; dem wollten der Wolf, die Pizza-Frau und meine Wenigkeit nicht fern bleiben. Und dort entdeckten wir Agnee.

Agnee ist eine indische Rockband. Ja, das gibt es tatsächlich. Weltweit mag Indien mehr für Bollywood, Yoga und Ayurveda bekannt sein; doch mit einer Öffnung gegenüber der Weltwirtschaft, starkem Inlandskonsum und einer neuen Mittelklasse wurde wohl auch der Ruf nach neuen musikalischen Produkten lauter – und das produzierte dann Bands wie Agnee, die mit Gesang, Gitarre, Schlagzeug und Bass ebenso auftreten wie mit klassischen indischen Rhythmusinstrumenten. Harte, in die E-Gitarre gehämmerte Akkorde werden hier begleitet von meditativem Gejaule oder einem tief daher gehauchten „Aoomm“; Rockmusik trifft auf klassische Hindu-Gesänge.

Das ist im Grunde das, was Bands wie REM (inzwischen aufgelöst) und LIVE (aufgelöst und inzwischen wieder neu vereint) in den 90ern versucht haben – und sie waren gut darin; das muss man ihnen zugestehen. Aber wenn man ehrlich ist, haben die westlichen Alternative-Rocker lediglich versucht, den Geist Indiens im Rahmen eines Selbstfindungstrips für orientierungslose College-Studenten in westliche Tonleitern zu gießen. Die Inder, so glaube ich seit gestern, können das besser. Vielleicht sollte der Westen, nachdem Indien seine wirtschaftlichen Grenzen geöffnet hat, langsam mal mit dem Öffnen seiner kulturellen Grenzen und dem Abbau veralteter Klischees beginnen. Davon könnten beide Seiten nur profitieren.

Nichts Neues an der Selbstfindungs-Front

Die Band REM rund um Sänger Michael Stipe kann guten Gewissens als die institutionalisierte Selbstfindung schlechthin bezeichnet werden – wohl kein Studentenzimmer auf der Welt gibt es, indem zu pseudointellektueller Diskussion nicht Stücke wie „Losing My Religion“ oder „Shiny Happy People“ gelaufen sind. REM waren zudem Inspiration für zahlreiche andere Bands, von der US-amerikanischen Band Live bis zu vielen meiner eigenen Musikprojekte – während aber Live sich mittlerweile aufgelöst haben und meine letzte Band ebenfalls eine kreative Pause einlegt, sind REM wieder da: Mit ihrem neuen Album „collapse into now“.

Zugegeben: Der Journalist in mir fand das Album unglaublich platt. Bei objektiver Betrachtung ist auf den ersten Blick offensichtlich, dass die Band wenig neue Ideen hat – ein Rocksong hier und eine Ballade dort, aber im Endeffekt klingt alles wie die vorherigen Alben. Pfui, hinfort damit – vorerst habe ich das Album nicht mehr angerührt.

Bis ich heute beim Kaffeekochen mich selbst beobachtete.

Denn da stand ich in der Küche und ertappte mich dabei, wie ich Melodien aus „collapse into now“ summte. „Ihr verdammten Hunde“, dachte ich mir: „Habt Ihr es also doch wieder geschafft.“ Flugs also den mp3-Player angeworfen, Kopfhörer eingesetzt und Kaffee schlürfend auf dem Weg in die Redaktion den Verdacht bestätigt: Auch diesmal haben REM wieder ein ordentliches Ohrwurm-Album produziert.

Es ist schwer, einzelne Beispiele heraus zu greifen. Der rockige Opener „discover“ bleibt ebenso im Ohr kleben wie das Schmuselied „Oh My Heart“. Das alles wie gesagt, ohne sonderlich kreativ zu sein: Rhythmus-Gitarre, Streicher, der eine Riff hier und da, ein flüsternder, schreiender und jaulender Stipe plus Backing-Vocals. Den Höhepunkt der Banalität bildet mit einem straightem Songaufbau, verzerrter E-Gitarre und melodiösem Refrain der Rocksong „mine smells like honey“ – und dieses Lied ist zugleich jenes Stück, das in mir am meisten die Vorfreude auf die kommende Festival-Saison weckt.

Denn so sehr der Journalist in mir auch die objektiven Kriterien heran ziehen möchte: Der Stefan in mir freut sich auf 30 Grad, Sonnenbrille, Staub, Dosenbier – und vor mir auf der Bühne ein Michael Stipe, der mir vorsingt, warum ich so bin wie ich bin.Fazit: Wenige Band dürfen so unverschämt sein, jahrzehntelang das Gleiche zu machen – aber REM gehören zu dieser seltenen Spezies. Der guten alten Studentenzeit wegen.

Ich liebe es, wenn Stipe mit anderen Bands live spielt.

Hier ein gemeinsamer Auftritt mit Radiohead.