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Macht es nicht selbst

Eine längst fällige Nicht-Interpretation

Es steht viel geschrieben über das jüngst erschienene Tocotronic-Album. Texte von Kulturredakteuren diverser Medien, die sich auf Grund des neuen Werks aus Hamburg dazu verleitet fühlen, selbst den Intellektuellen raus hängen zu lassen, mit Neologismen um sich zu werfen und unverständliche Schachtelsätze zu bilden. Und alle geben vor, das Werk zu verstehen. Nach  einigen Versuchen, die Interpretationen zu verdrücken, musste ich schon nach kurzer Zeit kapitulieren – der Brechreiz war einfach allzu treibend. Wer Tocotronic verstehen will, muss verstehen: Tocotronic kann man nicht verstehen.

Das beginnt schon auf der musikalischen Ebene. Wer klugscheißern will, gibt von sich, die Band würde zu ihren Ursprüngen zurück finden. Kompletter Schwachsinn: Wer so etwas behauptet, hat entweder Tomaten auf den Ohren oder Nudeln im Hirn. Fakt ist – da sind sich alle einig -, dass die Instumentalparts des aktuellen Werks deutlich länger sind als bei den jüngeren Vorgängern. Das impliziert aber noch lange nicht eine Vergleichbarkeit mit den Frühwerken. Warum? Der Grund kommt aus den USA und heißt Rick Mc Phail: Der jüngste Neuzugang der Band spielt sein Talent auf „Schall und Wahn“ erstmals aus, seine The Edge-artigen Effektorgien dominieren die Instrumentalparts, der Rest der Band geht dagegen fast unter. Tocotronic sind eine Gitarrenband geworden.

Und an Interpretationen der Texte möchte ich mich gar nicht erst versuchen; das bringt sowieso nichts, weil von der Band anschließend ohnehin alles negiert wird. Die kafkaesken Fragmente sind auf einer rationalen Ebene nicht begreif- oder beschreibbar. Da ist manchmal davon die Rede, dass ein Gift eine Gabe ist, nämlich das Parfüm, das man trägt. Und wo anders wird eine Lanze für den Widerstand hervor gekramt. Aber dann darf es auch keine Meisterwerke mehr geben, weil die Zeit dafür reif ist und… hä?

Ach, verdammt… Versuche, diese Texte zu interpretieren, sind mehr als peinlich. Besser ist, so vorzugehen wie auch bei den Vorgängern: Das Album in verschiedenen Lebenssituationen hören, auf die eigenen Umstände umlegen, drüber freuen und dann auf dem Konzert ganz wild abzappeln. Nach einem intensiven Konsum von „Sag alles ab“ hatte ich etwa gelernt, öfters mal „Nein“ zu sagen. Viellicht foilge ich ja künftig dem Aufruf der aktuellen Single und mache weniger Dinge selbst – oder auch nicht. Sie sind anderer Meinung? Oder ich spreche Ihnen aus der Seele? Sie sind verwirrt? Dann kann ich nur noch zu einem raten: Bitte oszillieren Sie.

Die neue Tocotronic-Single ist online!

Seit einer knappen Stunde ist es so weit: Tocotronics Video zur neuen Single  „Macht es nicht selbst“, der erste Vorbote des im Jänner erscheinenden Albums „Schall & Wahn“ ist auf der Homepage der Band online. Ersteindruck: Wie zu erwarten eher seltsam.

Anders als bei anderen Stücken der jüngeren Schaffensperiode spart die Band hier mit Zitaten diverser Autoren verschiedenster Epochen. Stattdessen kommt die Message klar rüber: „Was Du auch machst, mach es nicht selbst“. Außer Selbstbefriedigung. Und natürlich Selbstausbeutung. Was? Wie bitte? Doch nicht so klar? Typisch Tocotronic eben. Die Interpretation bleibt dem Zuhörer überlassen; und der muss das nun erst mal sickern lassen.

Musikalisch scheint die Band weiter den Weg zu gehen, der sich schon im Voralbum „Kapitualtion“ abgezeichnet hat: Wieder zurück zu den Wurzeln; rockig gehalten mit verzerrter Gitarre – im Hintergrund ist ein Schriftzug zu sehen, der schon an die „Sag alles ab“-Zeit des Vorgänger-Albums erinnert . „Fuck it all“, will uns die Band damit wohl einmal mehr sagen.  Von der Verträumtheit des selbstbetitelten „weißen Albums“ (welches mit „Schatten werfen keine Schatten“ eines der schönsten Liebeslieder aller Zeiten enthält) ist hier nichts mehr zu spüren. Ob von dem Ersteindruck auf das ganze Album zu schließen ist, wird sich noch zeigen. Zumindest die Single sollte aber tanzbar sein und wird daher im Jahr 2010 wohl öfter aus den Lautsprechern des „Flex“ erklingen.

Im Video selbst besprühen sich übrigens überdimensionale Stofftiere gegenseitig und laufen dann brennend durch die Gegend. Flaming Lips meets Rammstein. Auch mal interessant.

Das ganze Video gibt’s übrigens hier.

dirk