Krishna und Kreditkarten
Ein paar Tage später treffe ich die Pizza-Frau wieder, und wir halten einander durch Plaudern vom Kerngeschäft ab. Ich frage sie, ob sie auch plant, den Workshop zum Thema „Urban Gardeining“ zu besuchen – dort erlernt man das Anbauen von Gemüse auf dem eigenen Großstadt-Balkon. Sie lehnt ab: Erstens sei das ein Workshop für Fortgeschrittene; und zweitens seien ihre finanziellen Mittel derzeit beschränkt. Denn vor drei Wochen ist ihr ihre Kreditkarte gestohlen worden, und so hatte sie keinen Zugriff auf Bargeld während der letzten 20 Tage – zum Glück hat ein Freund ihr aber 1000 Rupien (14 Euro) geborgt, mit denen sie in dieser Zeit überleben konnte.
Zwanzig Tage mit 14 Euro überleben? Das geht, auch in der Mittelklasse, sagt die 25jährige: Ab und zu von zuhause arbeiten um sich die Fahrtkosten in die Arbeit zu sparen; zuhause selbst kochen. Und außerdem: Wenn sie Geld habe, gebe sie es meistens rasch für irgendeinen Schnickschnack aus. „Das war wohl eine Strategie der Götter, mich in dieser Hinsicht zu belehren“, sagt sie überzeugt.
Der Desktophintergrund auf ihren MacBook zeigt ein Bildnis von Krishna, einer Inkarnation Vishnus.
Das Gespräch driftet in eine andere Richtung: Über Religion, über das Leben und so. „Bis zu meinem 18. Geburtstag habe ich immer am gleichen Ort gelebt. Dann habe ich mir von den Göttern gewünscht, mehr zu reisen“, sagt sie: „Seitdem lebe ich aus dem Koffer.“
„Und zu welchem der Götter betest Du?“, frage ich. Denn es gibt ja so viele. Sie erzählt mir, dass in den alten Texten – dem Ramayana-Epos, der Mahabharata, der Bhagavad Gita – viel Weisheit steckt; und der große Unterschied zwischen den hinduistischen Göttern und dem Gott der Christen ist: Die meisten Hindu-Götter dürfen Fehler machen. Sie töten, und sie lügen, und sie erreichen trotzdem ihre Ziele – sie sind nicht perfekt, sie haben ihre Fehler, genauso wie die Menschen.
Ich versuche einen Rückschluss auf die Gesellschaft: Kann es vielleicht sein, dass wir Mitteleuropäer deswegen so perfektionistisch sind, weil wir eigentlich unserem Gott unterbewusst nacheifern wollen, so sein wollen wie er? Und dass indische Lösungen oft leichte Fehler haben, technische Produkte meist nicht schön ausschauen und dennoch ihren Zweck erfüllen, weil auch die Götter trotz ihrer Fehlerhaftigkeit ihre Ziele erreichen? Und, jetzt kommt der Clou: Ist unsere westliche Gesellschaft so unzufrieden, weil wir niemals wirklich Perfektion erreichen können, während der Hindu mit der halben Lösung zufrieden ist, solange sie ihren Zweck erfüllt? Das ist Stoff zum Nachdenken.
Mittlerweile hat die Pizza-Frau übrigens eine neue Kreditkarte. Den Code, so sagte man ihr bei der Bank, bekäme sie – so wie in Europa auch – später separat. Perfektionismus hin oder her: Bürokratie gibt es halt überall.