Meine bisherige Erfahrung hat gezeigt: Es ist in Indien nicht gerade leicht, an Termine zu gelangen. Häufig wird auf Emails nicht geantwortet; oder es werden mögliche Termine genannt, die in weiter Ferne liegen – ist der Tag X dann schließlich da, kommt doch in letzter Minute noch etwas dazwischen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt und mich adaptiert: Ich weiß nun, dass ich nie das bekomme, was ich mir eigentlich wünsche – jedoch ist die Ersatzlösung manchmal gar besser als mein ursprünglicher Plan. Einen Menschen aber, den will ich in Bombay auf jeden Fall treffen: Den Mythologen Devdutt Pattanaik. Er hat bereits etliche Bücher über Hinduismus geschrieben, ist gefragter Redner auf Konferenzen und Trainer für Unternehmen, die in Indien Geschäft machen wollen. Sein Konzept ist, hinduistische Mythen zu dekodieren und so auf das heutige Verhalten zu schließen – niemand kann das Wechselspiel zwischen indischer Religion und Kultur also so gut erklären wie er.
In meiner typisch westlichen Art schreibe ich ihm ein Email. Nur um kurz darauf eine Antwort zu bekommen: „Rufen Sie mich an“. Als ich am nächsten Morgen seine Nummer wähle, sagt er, er sei gerade bei der Haji Ali Moschee, ich solle doch in einer halben Stunde von Khar aus dorthin kommen. „Kein Problem“, sage ich und lege auf. Fünf Sekunden später klingelt mein Handy, es ist Devdutt: „Planänderung. Ich muss in mein Büro. Ich kann Sie direkt in Khar treffen.“ Okay, sage ich, und spaziere Richtung Khar-Bahnhof. Auf dem Weg ruft er mich wieder an, wo wir uns nun genau treffen – die Verbindung ist schlecht, auf beiden Seiten tönt der omnipräsente Straßenlärm. Mit Müh und Not vereinbaren wir, uns direkt vor dem Bahnhofsgebäude zu treffen.
Dort angekommen, gehen wir frühstücken. Ich sitze mit dem berühmtesten Mythologen Indiens in meinem Stamm-Straßenlokal in Khar und esse ein Idli Vada. Es kostet 50 Rupien, und er übernimmt die Rechnung. Dann setzen wir uns in sein Auto, und sein Fahrer chauffiert uns zu seinem Büro – die Fahrt dauert rund eine Stunde, und während dieser Zeit darf ich das Interview mit ihm führen.
Die Situation ist bezeichnend für das, was Devdutt mir im Lauf des Gesprächs erläutert: Die Inder sind eine orale Kultur. Es ist ungewiss, wie alt der Hinduismus selbst eigentlich ist, denn zu Beginn wurde er lediglich mündlich in den Tempeln von Generation zu Generation weiter gegeben. Erst als die Engländer nach Indien kamen, definierten sie die Rig Veda als das erste Buch des Hinduismus – denn die Europäer hatten Bedarf an einem geschriebenen Regelwerk; den Indern hingegen war das wurscht, sie kamen mit der mündlichen Überlieferung schon ganz gut klar – und entsprechend werden Termine lieber telefonisch ausgemacht als per Email. „Wir glauben, dass Reden Probleme lösen“, sagt Devdutt mir: „Verträge hingegen können gebrochen werden.“
Außerdem hat mir allein schon das Treffen mit ihm gezeigt: Inder hassen Planung, sie improvisieren lieber in letzter Minute. „Wir glauben, dass jeder Moment aus einem Menschen in einer Situation besteht“, sagt er. Und Menschen verhalten sich unterschiedlich in einem anderen Umfeld, genau wie sie jeweils die andere Situation beeinflussen. Stimmt: Die Autofahrt wäre für ihn wohl anders, wenn ich nicht dabei wäre. „Und ein Stefan in Wien ist wohl anders als ein Stefan in Indien“, sagt er. Stimmt ebenfalls: Ich trage eine Kurta, habe mich in den letzten Monaten immer mehr der indischen Kultur angepasst. In Wien werde ich wohl wieder T-Shirt und Jeans tragen. „Und entsprechend, weil sich eh alles ändert, planen Inder so ungern“, sagt Devdutt. Dann zeigt er aus dem Fenster seines Autos, es ist eine typische Straßensituation in Bombay: Ein Motorradfahrer fährt ohne Helm gegen die Einbahn, Fußgänger überqueren bei starkem Verkehr die Straße, es wird gehupt und geschimpft, eine Kuh und ein paar Straßenköter betrachten das Treiben gelangweilt. „In Deutschland haben Sie Regeln, an die sich jeder hält, damit keine Unfälle passieren“, sagt Devdutt: „In Indien macht Jeder die Regeln selbst, passend zu seinem jeweiligen Umfeld.“ Hinduismus hat keine festgeschrieben Regeln und kein religiöses Oberhaupt – im Gegensatz zum Christentum, das sich an Papst und Bibel klammert. „Entsprechend“, so Devdutt, „ist auch die Hare Krishna-Bewegung mit ihren strengen
Regeln und dem Klammern an die Bhagavad Gita mehr eine westliche als eine indische Institution.“ Ich denke an die kahlgeschorenen Typen, die mantrasingend jeden Sommer über Wiens Mariahilfer Straße hüpfen und muss lächeln.
Schließlich erreichen wir sein Büro und das Gespräch ist beendet. „Wie alt sind Sie eigentlich?“, fragt er mich. „29. Dies ist mein letztes großes Abenteuer, bevor ich in ein paar Wochen 30 werde“, entgegne ich. Er lächelt: „Seltsam. Ich habe mir Deutsche immer als große, blonde Menschen vorgestellt – aber sie sind klein und schmächtig.“ Ich lächle zurück. Devdutt ist ein echt netter Kerl. Und wenigstens, so denke ich mir, müssen wir Deutschen in Hinblick auf unsere Körpergröße keinen fest vorgeschriebenen Regeln folgen.