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Hinduismus

Ein Moment: Ganesh löst alles

Vor dem abendlichen Ausgehen spaziere ich noch zum Barbier, um meinen Bart stutzen zu lassen – der Mann von heute rasiert sich ja nicht selbst. In der kleinen Barbierstube nehme ich Platz; Kakerlaken betrachten ihr Abbild im Spiegel, während der Barbier seine Aufmerksamkeit meinem Bart widmet und ich das Geschehen im Fernsehen betrachte.

Dort läuft ein Film; ich verstehe die Sprache nicht – aber die Bilder sprechen Bände. Offensichtlich sind da drei Hexen – denn es handelt sich um drei in schwarz gekleidete Frauen mit Buckeln, die in schrillen Stimmen plappern – und eine Ziege. Das Tier attackiert die Hexen; offensichtlich handelt es sich dabei um einen Menschen, der von den bösen Schwarzmagierinnen verwandelt wurde. Während der gehörnte Schädel gegen schwarz-gekleidete Hintern rammt, fällt in einem parallelen Handlungsstrang eine junge Frau in Ohnmacht… Was nun? Zum Glück ist der Held gleich bei Stelle: Er hebt die Dame auf und trägt sie zu einem Ganesh-Schrein, legt sie dort sanft nieder. Dann rüttelt er an dem Schrein.

In der nächsten Szene sieht der Zuschauer Ganesh, den elefantenköpfigen Gott, in seinem Zuhause. Da der Held an seinem Schrein rüttelt, wird auch der Glücksgott ordentlich durch geschüttelt. Er torkelt; und ihm wird klar, dass seine Hilfe gebraucht wird. Also sagt der Elefantenkopf etwas, das ich nicht verstehe – und alle Probleme sind gelöst: Die Frau wacht auf, die Ziege wird wieder ein Mensch und die Hexen sterben. Es gibt Feuerwerke.

Ende gut, alles gut also. Und auch mein Bart ist gestutzt. Hochmotiviert starte ich in den Abend.

Devdutt – ein Mythologe deckt auf

Meine bisherige Erfahrung hat gezeigt: Es ist in Indien nicht gerade leicht, an Termine zu gelangen. Häufig wird auf Emails nicht geantwortet; oder es werden mögliche Termine genannt, die in weiter Ferne liegen – ist der Tag X dann schließlich da, kommt doch in letzter Minute  noch etwas dazwischen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt und mich adaptiert: Ich weiß nun, dass ich nie das bekomme, was ich mir eigentlich wünsche – jedoch ist die Ersatzlösung manchmal gar besser als mein ursprünglicher Plan. Einen Menschen aber, den will ich in Bombay auf jeden Fall treffen: Den Mythologen Devdutt Pattanaik. Er hat bereits etliche Bücher über Hinduismus geschrieben, ist gefragter Redner auf Konferenzen und Trainer für Unternehmen, die in Indien Geschäft machen wollen. Sein Konzept ist, hinduistische Mythen zu dekodieren und so auf das heutige Verhalten zu schließen – niemand kann das Wechselspiel zwischen indischer Religion und Kultur also so gut erklären wie er.

In meiner typisch westlichen Art schreibe ich ihm ein Email. Nur um kurz darauf eine Antwort zu bekommen: „Rufen Sie mich an“. Als ich am nächsten Morgen seine Nummer wähle, sagt er, er sei gerade bei der Haji Ali Moschee, ich solle doch in einer halben Stunde von Khar aus dorthin kommen. „Kein Problem“, sage ich und lege auf. Fünf Sekunden später klingelt mein Handy, es ist Devdutt: „Planänderung. Ich muss in mein Büro. Ich kann Sie direkt in Khar treffen.“ Okay, sage ich, und spaziere Richtung Khar-Bahnhof. Auf dem Weg ruft er mich wieder an, wo wir uns nun genau treffen – die Verbindung ist schlecht, auf beiden Seiten tönt der omnipräsente Straßenlärm. Mit Müh und Not vereinbaren wir, uns direkt vor dem Bahnhofsgebäude zu treffen.

Dort angekommen, gehen wir frühstücken. Ich sitze mit dem berühmtesten Mythologen Indiens in meinem Stamm-Straßenlokal in Khar und esse ein Idli Vada. Es kostet 50 Rupien, und er übernimmt die Rechnung. Dann setzen wir uns in sein Auto, und sein Fahrer chauffiert uns zu seinem Büro – die Fahrt dauert rund eine Stunde, und während dieser Zeit darf ich das Interview mit ihm führen.

Die Situation ist bezeichnend für das, was Devdutt mir im Lauf des Gesprächs erläutert: Die Inder sind eine orale Kultur. Es ist ungewiss, wie alt der Hinduismus selbst eigentlich ist, denn zu Beginn wurde er lediglich mündlich in den Tempeln von Generation zu Generation weiter gegeben. Erst als die Engländer nach Indien kamen, definierten sie die Rig Veda als das erste Buch des Hinduismus – denn die Europäer hatten Bedarf an einem geschriebenen Regelwerk; den Indern hingegen war das wurscht, sie kamen mit der mündlichen Überlieferung schon ganz gut klar – und entsprechend werden Termine lieber telefonisch ausgemacht als per Email. „Wir glauben, dass Reden Probleme lösen“, sagt Devdutt mir: „Verträge hingegen können gebrochen werden.“

Außerdem hat mir allein schon das Treffen mit ihm gezeigt: Inder hassen Planung, sie improvisieren lieber in letzter Minute. „Wir glauben, dass jeder Moment aus einem Menschen in einer Situation besteht“, sagt er. Und Menschen verhalten sich unterschiedlich in einem anderen Umfeld, genau wie sie jeweils die andere Situation beeinflussen. Stimmt: Die Autofahrt wäre für ihn wohl anders, wenn ich nicht dabei wäre. „Und ein Stefan in Wien ist wohl anders als ein Stefan in Indien“, sagt er. Stimmt ebenfalls: Ich trage eine Kurta, habe mich in den letzten Monaten immer mehr der indischen Kultur angepasst. In Wien werde ich wohl wieder T-Shirt und Jeans tragen. „Und entsprechend, weil sich eh alles ändert, planen Inder so ungern“, sagt Devdutt. Dann zeigt er aus dem Fenster seines Autos, es ist eine typische Straßensituation in Bombay: Ein Motorradfahrer fährt ohne Helm gegen die Einbahn, Fußgänger überqueren bei starkem Verkehr die Straße, es wird gehupt und geschimpft, eine Kuh und ein paar Straßenköter betrachten das Treiben gelangweilt. „In Deutschland haben Sie Regeln, an die sich jeder hält, damit keine Unfälle passieren“, sagt Devdutt: „In Indien macht Jeder die Regeln selbst, passend zu seinem jeweiligen Umfeld.“ Hinduismus hat keine festgeschrieben Regeln und kein religiöses Oberhaupt – im Gegensatz zum Christentum, das sich an Papst und Bibel klammert. „Entsprechend“, so Devdutt, „ist auch die Hare Krishna-Bewegung mit ihren strengen
Regeln und dem Klammern an die Bhagavad Gita mehr eine westliche als eine indische Institution.“ Ich denke an die kahlgeschorenen Typen, die mantrasingend jeden Sommer über Wiens Mariahilfer Straße hüpfen und muss lächeln.

Schließlich erreichen wir sein Büro und das Gespräch ist beendet. „Wie alt sind Sie eigentlich?“, fragt er mich. „29. Dies ist mein letztes großes Abenteuer, bevor ich in ein paar Wochen 30 werde“, entgegne ich. Er lächelt: „Seltsam. Ich habe mir Deutsche immer als große, blonde Menschen vorgestellt – aber sie sind klein und schmächtig.“ Ich lächle zurück. Devdutt ist ein echt netter Kerl. Und wenigstens, so denke ich mir, müssen wir Deutschen in Hinblick auf unsere Körpergröße keinen fest vorgeschriebenen Regeln folgen.

Heiligabend im Mahalakshmi-Tempel

Zu Weihnachten ist meine Familie zu Besuch – Schwester, ihr Verlobter, Mutter und Vater – und wir sind allesamt katholisch in einem Hindu-Land. Was bietet sich also mehr an als ein Ausflug zum Mahalakshmi-Tempel, dem größten Tempel Mumbais?

Gewidmet ist er – so lehrt es zumindest die Heilige Schrift des Lonely Planet – der Wohlstandsgöttin Lakshmi. Wer allerdings etwas tiefer gräbt, stellt bald fest: Da sitzen noch zwei andere Göttinnen auf dem Podest, nämlich die permanent wütende Kali und die Göttin der Weisheit, Saraswati. Aber so weit muss man erst mal kommen.

Denn wer von der Hauptverkehrsstraße aus das Tempelgelände betritt, der muss sich auf dem Weg zum zentralen Heiligtum zuerst einen Weg bahnen: Durch Menschenmassen, an Shops vorbei, die  Räucherwaren ebenso verkaufen wie Süßigkeiten, Souvenirs und Schuhe. Ein Shop verkauft auch kleine schwarze Figuren einer mythischen Figur. Ich frage den Händler, um welche Inkarnation es handle und bekomme die Antwort: „20 Rupies“. Ob das wohl ein Verwandter Lakshmis ist?

Dann kommt irgendwann der Punkt, an dem auch Katholiken dem hinduistischen Tempelbrauch nicht mehr entkommen: Schuhe ausziehen. Securities achten mit wachsamen Augen darauf, dass Jeder den Tempelbereich mit bloßen Füssen betritt – die Schuhe können nach dem Besuch verlässlich beim Wachmann wieder abgeholt werden. Außerdem werden beim Besuch des Tempels Damen und Herren akribisch getrennt, um den weiblichen Gläubigen den Zugang zum Tempel zu erleichtern – was aber wurscht ist, denn geschubst, gedrängelt und gedrückt wird sowieso.

Wer sich dann barfuß in einer Warteschlange wiederfindet, die mit ihren Wirrungen und Biegungen mehr an einen Vergnügungspark erinnert als an ein Heiligtum, irgendwo zwischen schwitzenden Hindus, die von hinten drängeln und vorne nicht weiter gehen wollen, der kann beobachten, wie das 21. Jahrhundert auch in der Religion Einzug gefunden hat: Im Wartebereich sind LCD-Screens angebracht, die die Stauen der drei Göttinnen zeigen – besonders Gläubige bewegen bereits hier stumm ihre Lippen, erwartend den Fernseher anbetend.

Das Heiligtum selbst ist dann vergleichsweise fad: Gläubige schwenken ihre Opfergaben und legen sie vor den Statuen ab, wo sie eifrig von den Pandits entfernt werden um Platz für weitere Kokosnüsse und Blumen zu machen. Hinter Lakshmis Rücken können dann noch Saris erstanden werden; und auf dem Rückweg kauft sich meine Schwester einen Ring um ein paar Rupies.

Am Abend wird die Familie dann hinduistisch beschenkt: Eine Messingstatue von Saraswati, der Göttin der Weisheit, für meine Mutter, Lakshmi, die Göttin des Geldes, für meinen hart arbeitenden Vater und ein elefantenköpfiger Ganesh, Entferner aller Schwierigkeiten, für meine Schwester. Ob ich an die Macht dieser Götter glaube? So halb. Klar sind wir als echte Katholiken skeptisch – aber immerhin zeigt die Praxis, dass die Händler im unmittelbaren Umfeld der Geld-Göttin gutes Geld verdienen.

Krishna und Kreditkarten

Ein paar Tage später treffe ich die Pizza-Frau wieder, und wir halten einander durch Plaudern vom Kerngeschäft ab. Ich frage sie, ob sie auch plant, den Workshop zum Thema „Urban Gardeining“ zu besuchen  –  dort erlernt man das Anbauen von Gemüse auf dem eigenen Großstadt-Balkon. Sie lehnt ab: Erstens sei das ein Workshop für Fortgeschrittene; und zweitens seien ihre finanziellen Mittel derzeit beschränkt. Denn vor drei Wochen ist ihr ihre Kreditkarte gestohlen worden, und so hatte sie keinen Zugriff auf Bargeld während der letzten 20 Tage – zum Glück hat ein Freund ihr aber 1000 Rupien (14 Euro) geborgt, mit denen sie in dieser Zeit überleben konnte.

Zwanzig Tage mit 14 Euro überleben? Das geht, auch in der Mittelklasse, sagt die 25jährige: Ab und zu von zuhause arbeiten um sich die Fahrtkosten in die Arbeit zu sparen; zuhause selbst kochen. Und außerdem: Wenn sie Geld habe, gebe sie es meistens rasch für irgendeinen Schnickschnack aus. „Das war wohl eine Strategie der Götter, mich in dieser Hinsicht zu belehren“, sagt sie überzeugt.

Der Desktophintergrund auf ihren MacBook zeigt ein Bildnis von Krishna, einer Inkarnation Vishnus.

Das Gespräch driftet in eine andere Richtung: Über Religion, über das Leben und so. „Bis zu meinem 18. Geburtstag habe ich immer am gleichen Ort gelebt. Dann habe ich mir von den Göttern gewünscht, mehr zu reisen“, sagt sie: „Seitdem lebe ich aus dem Koffer.“

„Und zu welchem der Götter betest Du?“, frage ich. Denn es gibt ja so viele. Sie erzählt mir, dass in den alten Texten – dem Ramayana-Epos, der Mahabharata, der Bhagavad Gita – viel Weisheit steckt; und der große Unterschied zwischen den hinduistischen Göttern und dem Gott der Christen ist: Die meisten Hindu-Götter dürfen Fehler machen. Sie töten, und sie lügen, und sie erreichen trotzdem ihre Ziele – sie sind nicht perfekt, sie haben ihre Fehler, genauso wie die Menschen.

Ich versuche einen Rückschluss auf die Gesellschaft: Kann es vielleicht sein, dass wir Mitteleuropäer deswegen so perfektionistisch sind, weil wir eigentlich unserem Gott unterbewusst nacheifern wollen, so sein wollen wie er? Und dass indische Lösungen oft leichte Fehler haben, technische Produkte meist nicht schön ausschauen und dennoch ihren Zweck erfüllen, weil auch die Götter trotz ihrer Fehlerhaftigkeit ihre Ziele erreichen? Und, jetzt kommt der Clou: Ist unsere westliche Gesellschaft so unzufrieden, weil wir niemals wirklich Perfektion erreichen können, während der Hindu mit der halben Lösung zufrieden ist, solange sie ihren Zweck erfüllt? Das ist Stoff zum Nachdenken.

Mittlerweile hat die Pizza-Frau übrigens eine neue Kreditkarte. Den Code, so sagte man ihr bei der Bank, bekäme sie – so wie in Europa auch – später separat. Perfektionismus hin oder her: Bürokratie gibt es halt überall.

Ein Moment: Indische Straßenhunde

Mein Weg in die Arbeit ist inzwischen sehr routiniert: Einmal über die Straße, dann über die Kreuzung, nach rechts, links, wieder rechts schauen und die Kopfbewegung während des Gehens stetig wiederholen – kann ja doch sein, dass mal wieder jemand gegen die Fahrtrichtung fährt. Dann Zeitung kaufen, während des Gehens bereits die ersten Mails auf dem Handy lesen, Papaya als Vormittags-Snack beim Papaya-Mann kaufen. Und: Straßenhunden ausweichen.

Heute gesehen: Zwei Exemplare paaren sich vor einem Straßenstand, an dem Essen verkauft wird. Sie wirken nicht so, als würde es ihnen Spaß machen – eher so, als sei das die erste echte körperliche Anstrengung in ihrem Leben. Ein paar Meter weiter sitzen andere Hunde auf der Straße und schauen dem Treiben stoisch zu. Sie sind teilnahmslos, emotional vollkommen unberührt. Die Rikschas, die sich den Weg durch den Verkehr Bombays bahnen, müssen ihnen ausweichen. Der Hund regiert die Straße. Wieder ein paar Meter weiter schläft ein Viech unter einem LKW.

Indien ist ein Hindu-Land, ein vegetarisches Land, ein tierfreundliches Land. Daran würde auch ein sportliches Großereignis nichts ändern. Man ko-existiert. Eigentlich nett – in dem Laden mit dem koitierenden Kötern würde ich aber trotzdem nicht mein Frühstück kaufen.