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Chennai

Eine Kleinigkeit

Ach, verdammt: Arbeiten muss ich ja auch ab und zu. Denn mit irgendeinem Geld muss ja die Reise eines urbanen Business-Nomaden finanziert werden. Und so begebe ich mich in Chennai nochmals ins Start-Up Center, um dort ein paar Artikel in die Tasten zu klopfen und nach Österreich zu schicken – dabei geht es um ein potentielles Handelsabkommen zwischen Indien und der Europäischen Union. Recherchieren, Schreiben und Verschicken kann ich ja zum Glück überall auf der Welt, solange ich einen Laptop und einen Internet-Zugang habe; und das Start-Up Center ist trotz seiner seltsamen „Dawn oft he Dead“-Atmosphäre dafür bestens geeignet.

Dann zieht es mich zum Knüpfen potenziell interessanter Kontakte noch auf eine Messe rund um das Thema Wasser. Diese findet im „Chennai Trade Center“ statt – ein Ort, den keiner meiner Bekannten, Freunde und Office-Kollegen kennt, der aber laut Google Places „eines der besten Messe-Zentren Asiens“ ist. Nun ja, dann lasse ich mich mal überraschen.

Die Anfahrt dauert ewig. Der Autorikscha-Fahrer will freilich kein Taxameter verwenden, weshalb wir länger verhandeln – schließlich bugsiert er mich doch eine Stunde lang durch den Verkehr, vorbei an hupenden und stinkenden Autos.

Einmal angekommen sorgt das weite Gelände am Stadtrand für eine positive Überraschung: Hier ist es ruhig, und sauber – mit vielen Grünflächen, gut gepflegten Hecken und Bäumen; der Besucher schaltet automatisch einen Gang herunter, atmet durch, wird entspannt, flaniert – vorbei an Sicherheitsmännern, Gärtnern und viel Grün – in Richtung Messehalle.

Und auch dort, alles schön: Hinter einem Springbrunnen, der leise dahin plätschert erhebt sich die Halle; am Eingangsbereich funktioniert die Registrierung problemlos – ich erhalte Unterlagen und ein Namensschild und betrete das Gebäude. Dort sammle ich Visitenkarten ein, teile hier und da auch selbst eine aus – und auch das eine oder andere Gespräch führe ich mit interessanten Unternehmen aus der Wasserwirtschaft. Filterung, Lagerung und Verteilung von Wasser – es wird wirklich kein Themenbereich ausgelassen.

Nur eine Kleinigkeit, die gäbe es da halt: Die Entsorgung. Schade, dass der Architekt bei der Planung der Hallen die Toiletten vergessen hat. Wirklich schade. Aber man kann ja nicht alles haben.

Zurück in den Tempel, in dem er geboren wurde

Die Bekannten wohnen in einer Villa am Stadtrand Chennais. Sie sind Deutsche, die aus beruflichen Gründen hier leben; nachdem sie einige Zeit lang eine Unterkunft im Zentrum der Stadt ausprobiert hatten, sind sie an den Stadtrand gezogen – hier ist zwar alles etwas rustikaler, aber dafür bleibt man vom Lärm der Großstadt verschont.

Ich komme an, werde freudig begrüßt und kann mich duschen – immerhin bin ich schon länger unterwegs heute, habe vor einem Kristall meditiert, einen Koffer zerstört und eine längere Autofahrt zurück gelegt. Anschließend gibt es zum Abendessen deutsche Rouladen und Kartoffelbrei. Draußen arbeiten die Bediensteten, füllen gerade den Pool mit neuem Wasser. Auf den antiken Möbelstücken stehen altertümliche Steinstatuen verschiedener hinduistischer Götter und Dämonen, die mit gedämmtem Licht angestrahlt werden.

Oberflächlich betrachtet wecken solche Bilder Neid, wenn sie im westlichen Fernsehen gezeigt werden. Dann ist immer davon die Rede, wie dekadent westliche Expats und Diplomaten im Ausland leben, welch große Häuser sie bewohnen und wie viel sie verdienen. Selten werden in solchen Fernsehreportagen die Widrigkeiten erwähnt: Meine Bekannten erzählen etwa, dass sie vor weniger Wochen drei Tage lang keinen elektrischen Strom hatten – während Zuhause wohl eine Revolution ausbrechen würde, wenn die Menschen nicht auf ihre tägliche Portion „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ kommen, müssen sich Expats und Diplomaten halt irgendwie arrangieren.

Und dann stellen sie fest, dass der Hund weg gelaufen ist; scheinbar hat einer der Gärtner das Tor offen gelassen. Das Tier gehört zur Familie, stammt aber ursprünglich aus der näheren Umgebung. „Wenn das Tor offen ist, läuft er immer weg und kommt dann später zurück“, sagt mir die Frau kopfschüttelnd: „Er kehrt dann zurück in den Tempel, in dem er geboren wurde.“ Das klingt vorerst romantisch und mystisch, ist es aber nicht: Lange nach Einbruch der Dunkelheit ist das vierbeinige Familienmitglied wieder da, wedelt freudig mit dem Schwanz – und stinkt bestialisch nach Kloake. Er hatte sich offensichtlich im Dreck gesuhlt. Als Strafe gibt es Liebesentzug und keine Kuscheleinheiten mehr für den restlichen Tag.

Wir trinken noch ein wenig deutschen Rotwein, und dann lege ich mich schlafen. Still im Bett liegend – so ganz ohne Tinitus – lasse ich die vergangen Tage, Wochen und Monate Revue passieren: Vielfältig war es, auf jeden Fall. Ich habe bei Kakerlaken geschlafen ebenso wie in einer teuren Villa am Stadtrand; ich habe meditiert, gearbeitet und gefeiert. Noch zu Beginn des Tages war ich vor dem größten makellosen Kristall der Welt gesessen, dazwischen habe ich altertümliche Tempel besichtigt und nun liege ich in einem warmen Bett, trunken mit deutschem Rotwein – wieder mal bereue ich nicht, nach Indien gekommen zu sein. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlafe ich ein.

Ein Moment: Musik in Bus

Ein junger Inder steigt in den Bus von Chennai nach Pondicherry. Er holt sein Handy heraus und schaut sich darauf Videos von seiner Freundin an – ohne Kopfhörer; denn Privatsphäre gibt es in Indien nicht und spielt auch keine Rolle. Dann spielt er ein Bollywood-Musikvideo lautstark ab und singt eifrig mit. Der Stimmbruch ist eine schlimme Zeit im Leben eines jungen Mannes.

Kakerlaken: Widerstand zwecklos

Ich versuche, die Kosten meines Aufenthalts in Indien niedrig zu halten, wo es geht – ein Mittelweg zwischen dem Hippie-Aussteigerleben und herkömmlichen Expats muss irgendwie möglich sein; vor allem in Sachen Unterkunft gibt es stets Einsparpotenzial. Für gewöhnlich schlafe ich daher in CoWorking-Spaces, die auch ein Co-Living, also ein Schlafen im Bürogebäude, ermöglichen im Jaaga oder dem Moonlighting gibt es etwa Betten für Menschen wie mich. Ergibt sich dies mal nicht, so ist meistens der Wolf dabei, und man kann sich die Kosten für ein Hotelzimmer teilen. In Chennai allerdings ist die Situation nicht allzu rosig: Da ich nicht unbedingt im unromantischen Startup-Center auf dem Boden nächtigen möchte und Fünf-Sterne-Hotels für Einzelpersonen eine teure Angelegenheit sind, entscheide ich mich für eine Billigunterkunft um 500 Rupien pro Nacht.

Im Badezimmer begrüßt mich bereits beim Einchecken mein erster Mitbewohner – hallo, liebe Kakerlake. Ich weise den Hotelangestellten darauf hin. „Kein Problem, die ist nur im Bad“, sagt er: „Ins Bett kommt die nicht.“ Ich merke an, dass ich Kakerlaken im Bad dennoch unhygienisch finde. „Also, wenn es Sie tatsächlich stört“, sagt er verdutzt, „dann kann ich natürlich Gift sprühen.“ Auf dem Weg zur Zimmertür entdeckt er einen weiteren Mitbewohner, der auf der Bettwäsche sitzt. „Sehen Sie, die Viecher sind doch auch im Bett“, sage ich, sichtlich angeekelt. Er zuckt die Schulter, ergreift die Kakerlake mit den bloßen Fingern, zerquetscht sie emotionslos zwischen Daumen und Zeigefinger und wirft den Leichnam auf den Boden.

Dann sprüht er, die Kakerlaken fallen von den Wänden zu Boden wie braunes Laub an einem lauen Herbstabend. Ich bin ein wenig entspannter und verlasse das Zimmer. Als ich aber wenige Stunden später zurück kehre, hat sich die Meute vervielfacht – einige Viecher sitzen im Bad; ich zerschlage rund ein Dutzend mit meinen Schuhen und kontrolliere, dass mein Koffer verschlossen bleibt; dann breche ich auf Richtung Startup-Center.

Am Abend denke ich mir dann, dass ich mich nicht schutzlos geschlagen gebe; ich kaufe mir ein Kakerlaken-Spray. Ultragiftig, Jumbopackung. „Euch zeig‘ ich’s, ihr Schweine“, flüstere ich, als ich das Hotelzimmer betrete. Die Badezimmertür öffne ich im besten Cobra-Spezialeinheit-Stil mit einem Fußtritt, richte meine Waffe auf den Gegner, der nicht mal reagieren kann und drücke ab – er fällt hilflos zu Boden und rührt sich nicht mehr. Ein zweiter schleicht sich von hinten an, doch er unterschätzt meine Intuition – ich wirble augenblicklich herum und strecke auch ihn mit einer Salve nieder. Drei weitere Gegner, die hinter der Tür gelauert haben, befördere ich – zack, zack, zack – ins Nirvana. Uff. Durchatmen.

Doch Nein – es ist noch nicht vorbei. Als ich das Bad verlasse, stehe ich im Schlafzimmer einer ganzen Armee gegenüber. Und sie sind widerstandsfähig. Ungleich der Bad-Bewohner sind diese Kreaturen bereits mutiert und somit gegen kleine Dosen des Gifts immun. Also verschieße ich bereits für die ersten fünf Widersacher einen Großteil meiner Munition – und als beim sechsten Mutanten ein unheilverkündendes „Pffff“ erklingt, weiß ich, dass ich mich auf den Mann-zu-Mann-Kampf einlassen muss und greife zu meiner Handwaffe, dem Schuh.

Mit diesem strecke ich skrupellos ein Biest nach dem anderen nieder, bis sie alle vernichtet sind, ich in einem Meer aus braunen, zerquetschen Leichen stehe.

Ich entschließe mich, die Nacht im Schlafsack zu verbringen. Da ich noch nicht einschlafen kann, schaue ich noch ein wenig fern – es läuft ein Horrorfilm rund um einen Schwarm aus überdimensionalen Hirschkäfern. Ich verbringe die Nacht äußerst unruhig.

Am nächsten Morgen erwache ich, als im Nebenzimmer das indische Ritual des Rachen-Säuberns durchgeführt wird: Zuerst werden geräuschvoll jegliche Körperflüssigkeiten aus dem Umfeld der Mundhöhle in ebendieser gesammelt, dann genüsslich ausgespuckt. „Guten Morgen“, flüstert ein Wesen im Bett neben mir. Ich greife gleich nach einem Buch und zerschlage sie. Meine Arme jucken; und ich stelle fest, dass jener Teil, der außerhalb des Schlafsacks gelegen war von unsichtbaren Bettgenossen zerbissen wurde – rote Punkte zieren meine weiße Haut.

Als ich schließlich noch meinen Schlafsack zusammenfalten möchte, krabbelt eine weitere Kakerlake aus dem Nest – sie hatte es sich offensichtlich in der Nähe meines Genitalbereichs gemütlich gemacht. Auch sie segnet nun das Zeitliche, und der Schlafsack wird ausgeschüttelt.

Ich blicke mich um. Nun ist alles still, doch es ist eine Ruhe vor dem Sturm. Ich erinnere mich an die Borg aus „Star Trek“ und meine, Stimmen zu vernehmen: „Wir sind Kakerlak“, sagen sie: „Widerstand ist zwecklos.“

Fluchtartig packe ich meine Sachen in den Koffer, schüttle meine Schuhe aus und ziehe sie an – nichts hält mich mehr hier, und der Kampf gegen die Ureinwohner ist eine Schlacht, die ich unmöglich gewinnen kann. Noch heute werde ich mit dem Bus nach Pondicherry flüchten.

Chennai: Das echte Indien

Chennai ist eine Großstadt im numerischen Sinne; denn sie hat viele Einwohner. Doch dieser Ort an Indiens Ostküste unterscheidet sich radikal von anderen indischen Metropolen. Delhi etwa punktet als Hauptstadt mit einer politischen Bedeutung, vielen internationalen Firmen und zumindest teilweise sauberen Straßen; Bombay ist die Finanzmetropole, hat ebenfalls einige internationale Konzerne vorzuweisen, eine gewisse Szene der Social Businesses und definitiv den Ruf als die Stadt mit den wildesten Nächten. Und selbst Bangalore, dieses mit hupenden Rikschas verstopfte Drecksloch, hat seinen Reiz: Hier gibt es eine blühende Szene aus Start-Ups, eine starke Digitalisierung der Gesellschaft, internationale Konzerne und spannende Konferenzen.

Und Chennai? Chennai hat nicht viel. Es gibt eine Automobilindustrie, aber von der bekommt man als flüchtiger Besucher nicht viel zu spüren. Und es gibt einen CoWorking-Space, der aber ganz anders ist als jene in Bangalore, Bombay und Delhi – mehr dazu später. Immerhin: Es gibt viele Tempel. Einen davon schaue ich mir auch an, an meinem ersten Tag in Tamil Nadu.

Dazu treffe ich mich mit einer Tänzerin aus Österreich, die hier in Chennai sich zu klassischem indischen Tanz fortbildet. Wir spazieren durch den Gebäudekomplex, der laut Lonely Planet der prächtigste Tempel der Stadt ist. Bei Ganesh findet gerade ein Pooja statt, und die Gläubigen drängen sich; nebenan – bei seinem Bruder Kartikeya – ist recht wenig los. Geschätzte 90 Prozent der Männer hier tragen einen Schnauzer; und die meisten haben religiöse Markierungen auf der Stirn. Als wir zu einem Seitenflügel kommen, entdecken wir die Tempelkühe; sie sehen sehr entspannt aus.

Dann fahren wir mit der Rikscha zum Strand. Die Rikschafahrer Chennais sind die größten Arschlöcher von allen. Während man in Bombay selbst im schlimmsten Monsun noch immer per Taxameter fahren kann und in Bangalore Angebot und Nachfrage die Berechnung bestimmen – bei Rush-Hour geht es nach Pauschale, zu stilleren Zeiten nach Taxameter -, wissen die Fahrer in Chennai vermutlich nicht mal, wie man dieses Gerät verwendet. Sie besitzen allesamt eines, aber es ist nie eingeschaltet und vermutlich nicht mal angeschlossen. Vor jedem Fahrtantritt muss also beinhart der Preis verhandelt werden – Ausländer schneiden bei diesem Spiel freilich schlecht ab.

Der Strand Chennais – ebenfalls als eines der Highlights angesehen – ist eine Mini-Version des Chowpatty Beach in Bombay. Auch hier gibt es Händler; und auch hier kann man nicht ins Wasser gehen. „Morgens machen die Menschen hier immer Yoga bei Sonnenaufgang“, sagt die Tänzerin. Zumindest das klingt nett.

Wir setzen uns in eines der Lokale; neben uns teilen sich junge Inder der Mittelklasse eine Zigarette. Heimlich. „Diese ganze Stadt ist so konservativ“, sagt mir die Tänzerin. Sie habe ihren Lehrer gefragt, wo sie denn moderneren indischen Tanz lernen könne – „Gehen sie nach London“, war seine Antwort. Wir essen fertig und verabschieden uns voneinander.

Als ich mit der Rikscha zurück in mein kakerlakenverseuchtes Hotel fahre (mehr dazu später), denke ich mir: Das ist noch das echte Indien. Die Rikscha bugsiert sich durch stinkenden, lautenden Straßenverkehr, vorbei an etlichen kleineren Tempeln, aus denen Männer mit bemalter Stirn und gewaltigen Schnauzern treten. Die Sonne geht unter, und kurz darauf werden die Gehsteige hochgeklappt; mir bleibt nur, mich schlafen zu legen.

Chennai. Nicht schön, nicht spannend, nicht interessant. Aber man muss es wohl auch mal gesehen haben.