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My documentary on coworking in India is finally OUT!

jaagamovieWhen I traveled through India in 2011 and 2012, I spent most of my time in coworking- and coliving-spaces, such as the Hub Bombay (now called „Bombay Connect“), the Jaaga in Bangalore and Moonlighting.in in Delhi. Even before I started writing my book, I filmed what happened in these places and conducted interviews with the founders. I told them that I would edit the material as soon as I would be back in Austria, and that there will be a full-length movie on Coworking in India, urban nomadism and digital life in the 21st century. My sincere apologies: That was a bunch of bullshit.

Unfortunately, I procrastinated a lot when it came to editing the footage. Instead, I wrote a book, developed an app and organised an India-related barcamp. Now, finally, I decided to publish the videos – but not as a full-length movie. Instead, I simply combined the videos with some funky open-source music, uploaded them to youtube and merged them to a playlist. Also, I added some material provided by the coworking-spaces themselves.

The result is almost two hours of video material, which takes the viewer on a journey: From the crowded streets of Mumbai to a coworking space in Bandra, followed by the coliving-space „Jaaga“ in Bangalore, which is composed entirely of pallet racks, to a luxurious house in Delhi, called „Moonlighting.in“. The journey concludes in the mythical city of Varanasi. If I you ever wanted to learn something about working and living abroad, in a world without borders and limits, then these videos will inspire you. Additional information will be provided by the text block s below the videos – and if you’re still hungry for more information: Buy my book.

The advantage of a youtube-paylist is the fact that you can skip the boring parts if you want to do so. And that you can watch the videos anytime, anywhere – as long as you have a working internet connection. And: It’s free.

Just click the video below to start the playlist (or click here to go directly to YouTube) – and then, pack your bags to head for your own adventure!

 

Probelesen: „Bye bye, Neo-Imperialismus!“

Seit dem Jahr 2002 mache ich einen großen Bogen um die Fastfood-Kette Mc Donald’s. Gründe dafür gab es viele: Erstens hat mich eine befreundete Vegetarierin davon abgehalten, zweitens erkannte ich, dass Fastfood ungesund ist, drittens schmeckte es mir nicht mehr und viertens – das ist wohl das wichtigste – sagt mir die Politik US-amerikanischer Fastfood-Ketten nicht zu, bei der mit Hilfe unterschwelliger Werbung Kunden zum Verneinen ihrer lokalen gastronomischen Kultur verführt werden. Ich gehe auch lieber in ein verrauchtes Wiener Kaffeehaus mit grantigem Kellner und teurem Kaffee statt ins supersterile Starbucks-Marketingparadies.

Dennoch: Gestern war ich mal wieder bei Mc Donalds. In Bombay. Schuld daran war alles und jeder.

Man nehme: Hitze, hohe Luftfeuchtigkeit, eine der schwülsten Klimazonen unseres Planeten. Und mittendrin wir, wie wir versuchen, den Bahnhof zu erreichen – in einem Taxi, mit schweren Koffern, inmitten lauten, stinkenden Straßenverkehrs. Lärm und Blink-Blink; überall. Stau, Stau, nochmals Stau. Schließlich erreichen wir den Bahnhof. Blick auf die Anzeigetafel: Kein Gleis für unseren Zug angeschrieben. Es ist circa 21 Uhr, um 22 Uhr soll unser Zug gehen. Die Anzeigetafel zeigt aber 7 Uhr morgens als Abfahrtszeit.

Eintritt also in die Wartehalle, wo viele Menschen warten. Liegend, auf dem Boden, und auch aufeinander. Durchkämpfen mit schweren Koffern, angerempelt werden. Nachfragen am Ticket-Schalter, ob die Angabe stimmt: Ja, tut sie; der Zug hat neun Stunden Verspätung.

Also diverse Hotels in der Nähe durch telefonieren. Bei manchen ist das Fax als Telefonnummer hinterlegt, andere verlangen horrende Preise. Schließlich komme ich beim „Galaxy Avenue“ durch und sage, wir seien in 20 Minuten dort.

Der Rikschafahrer will 150 Rupien für eine fünfminütige Fahrt. Mit Mühe bringen wir ihn auf 50 Rupien runter. Er fährt uns ins „Galaxy Avenue“ und kommt mit rein. Bleibt beim Rezeptionisten stehen und schaut uns beim Einchecken zu, weil es gerade lustig ist. Zwei Hotelboys schauen ebenfalls. Zu sechst stehen wir auf geschätzt vier Quadratmetern.

Ring ring. Mein Handy läutet.
Stimme: „Hallo, hier spricht das Galaxy Hotel. Wann kommen sie?“
Ich: „Wir stehen in Ihrer Lobby.“
Er: „Ah.“
Klick. Er hat aufgelegt. Okay.

Inzwischen will der Rezeptionist unsere Pässe haben. Wir sagen, dass sie in unseren Koffern sind und wir sie aus dem Zimmer holen müssen. Das dauere zwei Minuten. Der Rezeptionist wird nervös, willigt aber ein.

Auf dem Zimmer: Kein Luxus, aber wenigstens auch keine Kakerlaken. Wir öffnen die Koffer, um die Pässe heraus zu holen. Der Hotel-Boy klopft an die Tür – was jetzt mit den Pässen sei? Ja, gleich.

Unten geben wir unsere Pässe ab. Der Rezeptionist zeigt meinen Pass dem Rikschafahrer, sagt meinen Namen und lacht dreckig. Dann starrt er die Pässe noch weitere zehn Minuten an.

Indes: Ring-Ring.
Ich: „Hallo?“
Stimme: „Hier das Galaxy Hotel. Wann kommen Sie endlich?“
Ich: „Wir sind längst da. Ihr Rezeptionist betrachtet gerade unsere Pässe.“
Stimme: „Nein, sind Sie nicht“
Ich: „Wir sind im Galaxy Avenue.“
Stimme: „Nicht das Galaxy Palace?“
Ich: „Nein.“
Stimme: „Ah“
Klick.

Plötzlich kriege ich einen Gusto auf Schnitzel. Und auch: Lust auf einen weißen Spritzer, einen grantigen Ober, auf Schwarzbrot-Toast mit Kürbiskernen im MQ, auf laue Sommerabende auf dem Balkon eines Hauses am Stadtrand Wiens. Auch bekannt als: Kulturschock. Heimweh.

Auf der Suche nach etwas Essbarem gehen wir somit die Straße entlang, während Autos hupend an uns vorbei rauschen, die Luft noch immer schwül ist, es so seltsam riecht, wie nur Bombay riechen kann. Und dann sehen wir es: Das Mc Donald’s.

Kurzes Zögern, dann doch rein gehen. Auf’s WC, wo mich ein Mitarbeiter fragt, aus welchem Land ich komme. „Thailand“, sage ich, und bestelle einen Burger. Mit Huhn, Rind gibt es nicht. Wolfie nimmt Chicken Mc Nuggets, und wir essen. Es ist klimatisiert, die Werbung ist westlich. Kein Andrang, keine Hektik, bloß ein paar Mittelklasse-Familien und der Mitarbeiter, der mich für einen Thailänder hält.

Als wir das Etablissement verlassen, sehe ich eine Mutter mit Baby, welches begeistert eine lebensgroße Statue des McDonald’s-Clowns anfasst. Und dann hat es Klick gemacht in meinem Kopf.

Dann habe ich gemerkt, dass Indien stärker ist. Dass sich der alte Stefan wohl aufgeregt hätte über den „Neo-Imperialismus“, und über die manipulativen Marketing-Methoden, mit denen selbst Kleinkinder schon zu potentiellen Kunden erzogen werden. Nach dem Klick meinem Kopf dachte ich hingegen einfach nur: Scheiß drauf. Indien, dieses Land mit seinen Menschen, seinem Klima, seinem Chaos wird wohl niemals zu Füßen eines US-amerikanischen Konzerns kriechen, nur weil dieser ein paar Clowns aufstellt. Indien ist einfach größer, stärker, ist unbezwingbar in seiner chaotischen Art.

Das fühlt sich dann wieder gut an. Wir gehen noch zum Alkohol-Shop und kaufen uns Dosenbier, dazu eine Packung Beedies. Das konsumieren wir vor unserem Hotel, während uns ein Straßenköter anstarrt. Irgendwie ein beruhigendes Gefühl, dass Chaos die lokale Wirtschaft erhält.

Und übrigens: Der Burger hat beschissen geschmeckt.

Dieser Beitrag ist Teil des E-Books „Indien 2.0 – Twittern im Tuk-Tuk“, das aktuell bei Amazon erhältlich ist.

 

Devdutt – ein Mythologe deckt auf

Meine bisherige Erfahrung hat gezeigt: Es ist in Indien nicht gerade leicht, an Termine zu gelangen. Häufig wird auf Emails nicht geantwortet; oder es werden mögliche Termine genannt, die in weiter Ferne liegen – ist der Tag X dann schließlich da, kommt doch in letzter Minute  noch etwas dazwischen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt und mich adaptiert: Ich weiß nun, dass ich nie das bekomme, was ich mir eigentlich wünsche – jedoch ist die Ersatzlösung manchmal gar besser als mein ursprünglicher Plan. Einen Menschen aber, den will ich in Bombay auf jeden Fall treffen: Den Mythologen Devdutt Pattanaik. Er hat bereits etliche Bücher über Hinduismus geschrieben, ist gefragter Redner auf Konferenzen und Trainer für Unternehmen, die in Indien Geschäft machen wollen. Sein Konzept ist, hinduistische Mythen zu dekodieren und so auf das heutige Verhalten zu schließen – niemand kann das Wechselspiel zwischen indischer Religion und Kultur also so gut erklären wie er.

In meiner typisch westlichen Art schreibe ich ihm ein Email. Nur um kurz darauf eine Antwort zu bekommen: „Rufen Sie mich an“. Als ich am nächsten Morgen seine Nummer wähle, sagt er, er sei gerade bei der Haji Ali Moschee, ich solle doch in einer halben Stunde von Khar aus dorthin kommen. „Kein Problem“, sage ich und lege auf. Fünf Sekunden später klingelt mein Handy, es ist Devdutt: „Planänderung. Ich muss in mein Büro. Ich kann Sie direkt in Khar treffen.“ Okay, sage ich, und spaziere Richtung Khar-Bahnhof. Auf dem Weg ruft er mich wieder an, wo wir uns nun genau treffen – die Verbindung ist schlecht, auf beiden Seiten tönt der omnipräsente Straßenlärm. Mit Müh und Not vereinbaren wir, uns direkt vor dem Bahnhofsgebäude zu treffen.

Dort angekommen, gehen wir frühstücken. Ich sitze mit dem berühmtesten Mythologen Indiens in meinem Stamm-Straßenlokal in Khar und esse ein Idli Vada. Es kostet 50 Rupien, und er übernimmt die Rechnung. Dann setzen wir uns in sein Auto, und sein Fahrer chauffiert uns zu seinem Büro – die Fahrt dauert rund eine Stunde, und während dieser Zeit darf ich das Interview mit ihm führen.

Die Situation ist bezeichnend für das, was Devdutt mir im Lauf des Gesprächs erläutert: Die Inder sind eine orale Kultur. Es ist ungewiss, wie alt der Hinduismus selbst eigentlich ist, denn zu Beginn wurde er lediglich mündlich in den Tempeln von Generation zu Generation weiter gegeben. Erst als die Engländer nach Indien kamen, definierten sie die Rig Veda als das erste Buch des Hinduismus – denn die Europäer hatten Bedarf an einem geschriebenen Regelwerk; den Indern hingegen war das wurscht, sie kamen mit der mündlichen Überlieferung schon ganz gut klar – und entsprechend werden Termine lieber telefonisch ausgemacht als per Email. „Wir glauben, dass Reden Probleme lösen“, sagt Devdutt mir: „Verträge hingegen können gebrochen werden.“

Außerdem hat mir allein schon das Treffen mit ihm gezeigt: Inder hassen Planung, sie improvisieren lieber in letzter Minute. „Wir glauben, dass jeder Moment aus einem Menschen in einer Situation besteht“, sagt er. Und Menschen verhalten sich unterschiedlich in einem anderen Umfeld, genau wie sie jeweils die andere Situation beeinflussen. Stimmt: Die Autofahrt wäre für ihn wohl anders, wenn ich nicht dabei wäre. „Und ein Stefan in Wien ist wohl anders als ein Stefan in Indien“, sagt er. Stimmt ebenfalls: Ich trage eine Kurta, habe mich in den letzten Monaten immer mehr der indischen Kultur angepasst. In Wien werde ich wohl wieder T-Shirt und Jeans tragen. „Und entsprechend, weil sich eh alles ändert, planen Inder so ungern“, sagt Devdutt. Dann zeigt er aus dem Fenster seines Autos, es ist eine typische Straßensituation in Bombay: Ein Motorradfahrer fährt ohne Helm gegen die Einbahn, Fußgänger überqueren bei starkem Verkehr die Straße, es wird gehupt und geschimpft, eine Kuh und ein paar Straßenköter betrachten das Treiben gelangweilt. „In Deutschland haben Sie Regeln, an die sich jeder hält, damit keine Unfälle passieren“, sagt Devdutt: „In Indien macht Jeder die Regeln selbst, passend zu seinem jeweiligen Umfeld.“ Hinduismus hat keine festgeschrieben Regeln und kein religiöses Oberhaupt – im Gegensatz zum Christentum, das sich an Papst und Bibel klammert. „Entsprechend“, so Devdutt, „ist auch die Hare Krishna-Bewegung mit ihren strengen
Regeln und dem Klammern an die Bhagavad Gita mehr eine westliche als eine indische Institution.“ Ich denke an die kahlgeschorenen Typen, die mantrasingend jeden Sommer über Wiens Mariahilfer Straße hüpfen und muss lächeln.

Schließlich erreichen wir sein Büro und das Gespräch ist beendet. „Wie alt sind Sie eigentlich?“, fragt er mich. „29. Dies ist mein letztes großes Abenteuer, bevor ich in ein paar Wochen 30 werde“, entgegne ich. Er lächelt: „Seltsam. Ich habe mir Deutsche immer als große, blonde Menschen vorgestellt – aber sie sind klein und schmächtig.“ Ich lächle zurück. Devdutt ist ein echt netter Kerl. Und wenigstens, so denke ich mir, müssen wir Deutschen in Hinblick auf unsere Körpergröße keinen fest vorgeschriebenen Regeln folgen.

Wie ich an meine Wohnung in Khar kam

Wohnen in Bombay ist teuer, und gute Wohnungen sind schwer zu haben – nicht sehr viel einfacher wird die Situation für urbane Business-Nomaden, die von Ort zu Ort reisen, um permanent auf der Suche nach dem nächsten Kulturschock zwar nirgendwo sesshaft zu sein, aber überall eine Antwort zu suchen. In anderen Städten gibt es Orte für solche Menschen – etwa das Jaaga in Bangalore oder das Moonlighting in Delhi -, aber ausgerechnet in der Business-Metropole Bombay finden sich keine Co-Living-Spaces für die selbständige Wissensarbeiter-Generation des 21. Jahrhunderts. Und als ich das dritte Mal in die hektische Großstadt zurück kehre, rätsle ich: In das katholische Zuhause, in dem ich mich im Dezember eine Bleibe gefunden habe, ist aktuell kein Platz für mich; und in ein Hotel – wie bei meiner Ankunft zu Beginn dieser Reise – möchte ich auch nicht ziehen… was also tun?

Die Antwort gibt ein Pathologe. Am Flughafen von Trivandrum hatte ich mir noch ein paar Comics von ACK gekauft – in diesen werden in bildlicher Form indischen Kindern hinduistische Mythen nahe gebracht. Mein Sitznachbar im Flugzeug fragt freundlich, ob er sich ein Exemplar der „Gita“ ausleihen kann, und so sitzen wir nebeneinander: Er liest über die Weisheiten Krishnas rund um Dharma und Yoga, während ich mich über Kali informiere, die ja im Ashram mein Ego hätte zerstören sollen – ein vergeblicher Versuch.

Nach der Lektüre kommen wir ins Diskutieren: Die Gita, so mein Sitznachbar, lässt sich in Comicform schwer darstellen, denn es handelt sich ja eigentlich bloß um einen Dialog zwischen zwei Protagonisten – kriegerische Epen, wie etwa die „Ramayana“ rund um Dämonen, eine hübsche Frau und eine Affenarmee, geben da schon deutlich mehr her. Ich gebe ihm Recht, und er stellt sich vor: Er sei Pathologe und arbeite in einem Krankenhaus in Bandra. „Interessant, dort habe ich auch ein paar Wochen gelebt“, sage ich. Und nach kurzem Zögern frage ich ihn, ob er zufällig jemand kennt, der günstig ein Zimmer in Khar zu vergeben hat Er willigt ein, sich umzuhören.

Am nächsten Tag erhalte ich eine SMS von meinem Flugzeug-Sitznachbarn: Freunde vergeben eine Wohnung – zwar nicht direkt in Bandra, aber in Khar West, welches gleich an den hippen Vorstadt-Bezirk angrenzt. Ich rufe den Kontakt an und frage nach der Miethöhe: „Erst müssen sie sich die Wohnung ansehen und zusagen“, sagt er: „Dann sage ich Ihnen, wie viel sie kostet.“ Etwas ungewöhnlich, aber das Absurde ist in Indien ja normal. Also fahre ich nach Khar – dort komme ich eine Stunde zu spät an, weil ich in den falschen Zug gestiegen bin. Doch auch dies wird in Indien problemlos akzeptiert – der Verkehr kann als Entschuldigung für alles herhalten.

Die Wohnung ist schön: 30 Quadratmeter, Erdgeschoss, Marmorboden; mit Küche, Bad, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Satellitenfernsehen. Ich könnte sie für mich alleine haben, also selbständig eine Wohnung haben und das indische Mittelklasse-Leben in Khar West leben – täglich kommt eine Putzfrau, die sogar mein Geschirr für mich abwäscht. Warum also nicht? „Wenn Sie zusagen, dass sie die Wohnung nehmen, fragen wir in der Nachbarschaftsgemeinschaft um Erlaubnis“, sagt mein zukünftiger Vermieter: „Anschließend können wir Ihnen den Mietzins mitteilen und alles fixieren.“ Ich versichere, dass ich ein braver katholischer Junge bin und abends niemals ausgehe. Ich rauche nicht, trinke nicht und esse kein Fleisch – Indien ist ein Land der Opportunisten, und in dieser Hinsicht habe ich mich schon recht gut angepasst.

Am Abend dann ein Anruf: Ja, die Gemeinde hat zugestimmt; ich kann die Wohnung haben. Hurra. Als ich schließlich zur Schlüsselübergabe komme, gibt es nur noch eine Kleinigkeit: Ich muss ein Schreiben unterzeichnen, dass ich bloß temporär hier lebe und ein Freund seiner Tochter bin, die in den USA studiert. Eine Mithilfe zur Steuerhinterziehung also. Ich erwarte nicht, dass ich für meinen Mietzins – der höher ist als bei einem langfristigen Mietverhältnis, aber weit billiger als ein Hotel – eine Rechnung erhalte. Aber wenigstens habe ich jetzt ein Dach über dem Kopf.

Heiligabend im Mahalakshmi-Tempel

Zu Weihnachten ist meine Familie zu Besuch – Schwester, ihr Verlobter, Mutter und Vater – und wir sind allesamt katholisch in einem Hindu-Land. Was bietet sich also mehr an als ein Ausflug zum Mahalakshmi-Tempel, dem größten Tempel Mumbais?

Gewidmet ist er – so lehrt es zumindest die Heilige Schrift des Lonely Planet – der Wohlstandsgöttin Lakshmi. Wer allerdings etwas tiefer gräbt, stellt bald fest: Da sitzen noch zwei andere Göttinnen auf dem Podest, nämlich die permanent wütende Kali und die Göttin der Weisheit, Saraswati. Aber so weit muss man erst mal kommen.

Denn wer von der Hauptverkehrsstraße aus das Tempelgelände betritt, der muss sich auf dem Weg zum zentralen Heiligtum zuerst einen Weg bahnen: Durch Menschenmassen, an Shops vorbei, die  Räucherwaren ebenso verkaufen wie Süßigkeiten, Souvenirs und Schuhe. Ein Shop verkauft auch kleine schwarze Figuren einer mythischen Figur. Ich frage den Händler, um welche Inkarnation es handle und bekomme die Antwort: „20 Rupies“. Ob das wohl ein Verwandter Lakshmis ist?

Dann kommt irgendwann der Punkt, an dem auch Katholiken dem hinduistischen Tempelbrauch nicht mehr entkommen: Schuhe ausziehen. Securities achten mit wachsamen Augen darauf, dass Jeder den Tempelbereich mit bloßen Füssen betritt – die Schuhe können nach dem Besuch verlässlich beim Wachmann wieder abgeholt werden. Außerdem werden beim Besuch des Tempels Damen und Herren akribisch getrennt, um den weiblichen Gläubigen den Zugang zum Tempel zu erleichtern – was aber wurscht ist, denn geschubst, gedrängelt und gedrückt wird sowieso.

Wer sich dann barfuß in einer Warteschlange wiederfindet, die mit ihren Wirrungen und Biegungen mehr an einen Vergnügungspark erinnert als an ein Heiligtum, irgendwo zwischen schwitzenden Hindus, die von hinten drängeln und vorne nicht weiter gehen wollen, der kann beobachten, wie das 21. Jahrhundert auch in der Religion Einzug gefunden hat: Im Wartebereich sind LCD-Screens angebracht, die die Stauen der drei Göttinnen zeigen – besonders Gläubige bewegen bereits hier stumm ihre Lippen, erwartend den Fernseher anbetend.

Das Heiligtum selbst ist dann vergleichsweise fad: Gläubige schwenken ihre Opfergaben und legen sie vor den Statuen ab, wo sie eifrig von den Pandits entfernt werden um Platz für weitere Kokosnüsse und Blumen zu machen. Hinter Lakshmis Rücken können dann noch Saris erstanden werden; und auf dem Rückweg kauft sich meine Schwester einen Ring um ein paar Rupies.

Am Abend wird die Familie dann hinduistisch beschenkt: Eine Messingstatue von Saraswati, der Göttin der Weisheit, für meine Mutter, Lakshmi, die Göttin des Geldes, für meinen hart arbeitenden Vater und ein elefantenköpfiger Ganesh, Entferner aller Schwierigkeiten, für meine Schwester. Ob ich an die Macht dieser Götter glaube? So halb. Klar sind wir als echte Katholiken skeptisch – aber immerhin zeigt die Praxis, dass die Händler im unmittelbaren Umfeld der Geld-Göttin gutes Geld verdienen.

Bertram, der Blogger aus Bombay

Die Pizza-Frau mag ein gutes Beispiel für eine nette indische Begegnung sein – aber sie ist freilich nicht das einzige tolle Exemplar. Etwa gibt es da einen Blogger, der in Bombay lebt und den ich sehr schätzen gelernt habe. Weil ich Alliterationen so mag, sollten wir ihm den Namen Bertram geben – Bertram, der Blogger aus Bombay.

Bertram der Blogger führt mich begeistert durch Bandra, einen Stadtteil von Bombay mit eigener Bucht. „Bombay ist meine Stadt“, sagt der begeisterte Blogger Bertram. Er trägt schon seit einiger Zeit eine leere Wasserflasche mit sich herum. „Warum schmeißt Du sie nicht einfach weg?“, frage ich ihn. „Weil ich mir vorgenommen habe, Müll nicht einfach auf die Straße zu werfen“, beeindruckt mich Bertram. „Die meisten Menschen würden darauf pfeifen“, sage ich. Er nickt: „Die meisten Menschen sind Arschlöcher.“ Nach ein paar Metern finden wir wirklich einen Mülleimer – der Abfall wird fachgerecht von Bertram entsorgt.

Er erzählt, wie er vor ein paar Tagen von einer Reise aus Kuala Lumpur zurückgekehrt ist. Im Flugzeug hatte er noch seinem Sitznachbar begeistert erzählt, wie sehr die indische Wirtschaft boomt, wie eine neue Mittelklasse entsteht, wie technologieaffin Indien ist… Er erntet bewundernde Blicke für seine Beschreibungen des indischen Utopia – bis der Flieger in Bombay aufsetzt, die Türen sich öffnen, und diese spezifische Bombay-Geruch in die Nasen der Passagiere dringt, diese Mischung aus Urin, Räucherstäbchen, Meer, Gewürzen und Undefinierbarem. Der Gesichtsausdruck des Sitznachbars wandelt sich augenblicklich von Bewunderung zu Mitleid. „Warum ändern sie nichts daran? Warum muss ausgerechnet der Flughafen stinken, wo Reisende den ersten Eindruck meiner Stadt kriegen?“, fragt er vorwurfsvoll.

Wir spazieren hinauf zum Fort von Bandra, beobachten das Meer und die Ratten, wie sie an der Küste im Sonnenuntergang herum tollen – sie sind so groß wie durchschnittliche Hauskatzen. Zwei Inder kommen, beugen sich über die Brüstung und spucken in den Abgrund. Bertram ärgert sich – genau so, wie er sich ein paar Minuten zuvor über den rücksichtslosen Fahrstil mancher Autofahrer geärgert hat, als wir die Straße überquerten. „Das ist meine Stadt. Und ich will, dass sie schön ist“, fasst er zusammen: „Es kann doch wohl nicht sein, dass das Verantwortungsbewusstsein der Menschen außerhalb ihrer eigenen vier Wände aufhört.“

Bertram ist etwas Besonderes. Und das schreibe ich nicht, weil es eine Alliteration ist. Sondern, weil es stimmt. Bertram, der bewundernswerte Blogger aus Bombay.