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Auroville

Ich höre das Om

Wie vereinbart treffe ich Mauna am nächsten Morgen an den Toren des Matrimandir. Wir passieren den Security-Check, wo sie mich als ihren Gast registriert, und betreten den Garten, der das gewaltige Bauwerk umgibt. Hier führen verschlungene Pfade hin zu der goldenen Kugel, vorbei an Dingen, die für sich selbst genommen schon etwas Besonderes sind – etwa ein Banyan-Baum, dessen Zweige sich majestätisch in den Boden senken, um von dort erneut zu sprießen; den Durchmesser der Blattkrone würde ich auf 20 bis 30 Meter schätzen. Gärtner arbeiten fleißig an der Bewässerung der Rasenflächen, die Sonne des Südens brennt bereits am frühen Morgen auf das Gelände herunter.

Dann erreichen wird die goldene Kugel, die im Sonnenlicht schimmert und glänzt. Unter ihr befindet sich ein kleiner Teich – auf ihn fällt Sonnenlicht, das in ein Loch am Dach der Kugel eindringt, durch den berühmten Kristall hindurch fällt und schließlich am Boden der Kogel wieder austritt, um das Gewässer zu erleuchten. Das Wasserspiel hat die Form einer Lotusblüte, und das kühle Nass plätschert beruhigend dahin.

Zum Betreten der riesigen Kugel – dem spirituellen Zentrum Aurovilles – muss ich meine schwarzen Socken gegen weiße eintauschen. Nicht etwa aus religiösen Gründen, wie mir Mauna erklärt – sondern weil die schwarzen Socken Spuren hinterlassen würden. Das finde ich zuerst etwas zimperlich, doch als ich das Innere des Heiligtums betrete, verstehe ich, was gemeint ist: Die Teppiche sind hier weiß, die Wände aus weißem Marmor, die Geländer aus Glas, die Farblosigkeit des Raums wird unterbrochen von Silber. Menschen sind komplett in weiße Gewänder gekleidet; sie bewegen sich schweigend und gemächlich an Wendeltreppen im Stil eines Gemäldes von M. C. Escher hinauf zum oberen Teil der Kugel. Wäre ich süffisant, so würde ich sagen: Das Gesamtbild wirkt so, wie man sich in den 60er-Jahren die Zukunft vorgestellt hat. Aber eigentlich ist Süffisanz hier nicht angebracht; der Ort strahlt tatsächlich eine magische Energie aus, religiöse Symbole sind übrigens nicht zu finden.

Oben angekommen, sehe ich den Kristall. Es ist eine Kugel, die von oben durch einfallendes Sonnenlicht erleuchtet wird; wie magisch scheint er zu schweben und zu strahlen. Drum herum sitzen Menschen im Schneidersitz auf weißem Teppichboden vor den weißen, gebogenen Wänden der Halbkugel; sie meditieren. Und auch wir haben nun eine halbe Stunde Zeit dafür. Ich setze mich also hin, schließe die Augen und atme bewusst, um mich auf ein anderes spirituelles Level zu bewegen.

Es will mir nicht gelingen.

Denn im Ashram war es zwar ruhig, aber nicht vollkommen still gewesen – hier hingegen herrscht vollkommene Geräuschlosigkeit außerhalb meines Körpers; und dadurch höre ich, wovor ich mich die vergangenen Monate öfters gefürchtet hatte: Ein leises, permanentes Fiepen in meinen Ohren. Oh Schreck, denke ich mir: Ein Tinitus. Wie lange ich ihn wohl schon habe? Vielleicht schon seit Bangalore? Und ich habe ihn bloß nie wahrgenommen, weil es in Indien stets so laut war? Ist es nun zu spät für schulmedizinische Hilfe? Werde ich mein Leben lang dieses Fiepen im Ohr tragen? „Reg Dich ab, konzentriere Dich auf die Meditation“, sagt ein anderer Teil in meinem Körper: „Das ist eine einmalige Chance, ignoriere das Fiepen jetzt einfach.“ Der verängstigte, westliche Teil meines Gehirns streitet sich anschließend lauthals mit dem spirituellen Teil, der einfach nur in Ruhe vor dem größten makellosen Kristall der Welt meditieren will – und dieser Tumult in meinem Kopf tut mir gar nicht gut, ich fühle mich unzufrieden und komme auf keinen grünen Zweig. Und dann – blink, blink – leuchtet schon ein Licht auf, das den Meditierenden das Ende der halben Stunde einläutet. Wir stehen auf und verlassen die Kugel.

Zurück im Garten erkläre ich Mauna mein Problem: „Ich fürchte, ich habe seit Monaten einen Tinitus, und ich habe es erst jetzt – in der Stille – bemerkt“, jammere ich. Sie schaut mich mit großen Augen an und fragt: „War das ein hoher, gleichbleibender Ton?“. Ich bejahe, und sie lacht: „Das war kein Tinitus, das war das OM!“ Der heilige Ton also, der das Universum erfasst? Ich habe meine Zweifel, bin aber höflich. Ich sage ihr, dass ich das wohl falsch verstanden habe; und sie meint lediglich, das beruhe halt auf meiner westlichen Sichtweise. Irgendwie meine ich, zwischen den Zeilen ihrer Aussage ein „Du Trottel“ vernehmen zu können; ich hätte mich auf den Ton konzentrieren sollen und mit ihm meditieren, statt ihn zu ignorieren, sagt sie.

Naja. Ich zweifle die Aussage weiterhin für mich selbst an und nehme mir vor, in Österreich zu einem Arzt zu schauen, solle das Problem weiter bestehen – vermutlich, so fürchte ich, werde ich es wohl in den kommenden Wochen noch weiter hören. Ich verabschiede mich freundlich und fahre mit dem Auto weiter; zuerst nach Mahabalipuram, und dann weiter nach Chennai.

Am Abend des gleichen Tages liege ich in einem Bett, am Stadtrand von Chennai; und es ist totenstill. Komplett still. Mein vermeintlicher Tinitus, so stelle ich erstaunt fest, ist verschwunden.

Auroville: Das endlose Experiment

Nach der Erfahrung im Ashram von Aurobindo ist klar, dass ich auch dem nahe Pondicherry gelegenen Auroville einen Besuch abstatten muss – was so klingt wie die Verballhornung alles Sektoiden in bester Simpsons-Manier ist in Wahrheit ein Versuch, der Ende der 60er Jahre gestartet wurde und bis heute andauert. Hier sollen verschiedene Völker friedlich miteinander leben; es soll spirituelle Erfüllung geben, aber keine Religion; keinen Besitz, aber eine Bereicherung des Lebenssinns durch Arbeit – Ziel ist, ein Vorbild für die gesamte Menschheit zu bilden.

Das klingt stark nach Hippie-Traum und John Lennons „Imagine“ – in Wahrheit sind meine Gesprächspartner aber alles andere als kiffende Alt-68er, sondern eifrige Geschäftsleute; es ist recht schwierig, an einem einzigen Tag alle Termine mit einander zu koordinieren. „Manchmal frage ich mich, wie sich das überhaupt ausgehen soll“, sagt mir ein österreichischer Zivildiener – sein Chef macht sich manchmal mehrere Termine gleichzeitig aus; halt so, wie es im Westen der CEO eines großen Konzerns machen würde.

Schließlich führt mich mein erster Weg doch zu Martin, dem Geschäftsführer eines Unternehmens namens „Auroville Consulting“. Ich frage ihn, was seine Firma so macht – und trete damit schon mal gleich ins Fettnäpfchen: „Das ist nicht meine Firma“, korrigiert er mich. Denn in Auroville gibt es keinen Besitz; sein Unternehmen, sein Haus und sein Einkommen gehören der Auroville Foundation, als Bezahlung für seine Arbeit erhält er – ebenso wie alle anderen, die zum Erfolg Aurovilles beitragen – jeden Monat 11.000 Rupien. Dieses Einkommen ist unabhängig von der Art der Beschäftigung, es gibt keine Angestellten und keine Arbeitsverträge. „Der finanzielle Anreiz fällt somit weg“, sagt Martin, während wir uns im Schneidersitz in einem sonnigen Innenhof gegenüber sitzen: „Daher arbeiten wir ausschließlich aus Leidenschaft für die Arbeit, die meisten hier glauben an die Vision von Auroville.“

Ob man von 11.000 Rupien im Monat wohl leben kann? „Es ist tough, denn in meinem Beruf braucht man einen guten PC, muss Fachliteratur kaufen und auf Konferenzen fahren“, sagt er mir. Es gibt aber auch einen Fonds, aus dem man Geld schöpfen kann, wenn es wirklich dringend benötigt wird – die Bedienung aus diesem erfolgt auf Vertrauensbasis. In Österreich war er fast fünf Jahre lang nicht, bis er im April 2010 kurzfristig zurückkehrte: „Da habe ich festgestellt, dass sich in der langen Zeit nicht wirklich etwas verändert hat“, sagt er grinsend. In Auroville, wo permanent an einer besseren Welt gearbeitet wird, tut sich einfach mehr.

Und die Kulturen mischen sich – allein in Martins Freundeskreis finden sich acht Nationalitäten, wie er mir erzählt. Die gesamte Community macht heutzutage mehr als 1800 Einwohner aus 35 Nationen aus, die in 80, auf zehn Quadratkilometern verstreuten Siedlungen unterschiedlicher Größe leben. Über 40 Prozent der Bewohner sind Inder, rund 15 Prozent Franzosen und elf Prozent Deutsche. Vor der Gründung Aurovilles gab es hier bloß zwei Dörfer mit rund 50 Einwohnern – und nachdem mir ein paar Wochen zuvor eine Reisende von Auseinandersetzungen zwischen den internationalen Siedlern und der lokalen Bevölkerung erzählt hatte, spreche ich Martin darauf an: „Natürlich gibt es Reibereien“, sagt er: Die lokale Bevölkerung habe etwa andere Vorstellungen zu Entwicklung; während der Westler ein Leben abseits des Konsum-Wahns rund um Shopping-Center und schwachsinnige Fernseh-Shows sucht, wünscht sich die hiesige Bevölkerung eigene TV-Geräte und Motorräder – auch Alkoholismus ist ein Thema. „Und das entspricht nicht dem Lebensstil von Auroville“, sagt Martin: „Wir müssen daher Alternativen bieten.“

So wie es Aurelio tut. Er hat in Österreich Ethnomusikologie und Musiktherapie studiert und nutzt hier das Wissen der lokalen Bevölkerung um neue Instrumente zu bauen – in seinem Shop reihen sich Klangkörper aneinander, die ich in dieser Form noch nie gesehen habe. Mit einem Monatsbudget von 500.000 Rupien hat er bisher über 30 Mitarbeiter zu Instrumentenbauern ausgebildet. „Sie waren zuerst Analphabten, nun sind sie im Management“, sagt er mit einem milden Lächeln. Während wir uns unterhalten findet ein paar Meter weiter ein Workshop zum Thema „Body Percussion“ statt – die Teilnehmer klopfen sich auf verschiedene Körperteile und machen lustige Geräusche mit ihren Mündern; Aurelios hauseigene Truthähne stimmen begeistert mit ein.

Und dann ist da noch Mauna. Sie ist Teil des PR-Teams von Auroville, und ich treffe sie zum Mittagessen. „Puh, das ist ganz schön viel Info für einen Tag“, ächze ich: „Vermutlich bräuchte ich Wochen, um das System von Auroville komplett zu verstehen.“ Denn zwischen meinen Gesprächen habe ich noch einem der Museen Aurovilles einen Besuch abgestattet – und dort mich zumindest eingelesen in die Tatsache, dass Auroville auch rund um Solarenergie, Abfallmanagement und Alternative Antriebssysteme eine Vorreiterrolle einnimmt. Mauna lächelt angesichts meines Informations-Overflows: Sie hatte mich schon im Vorfeld per Email gewarnt, dass das Projekt Auroville zu komplex ist, um es an einem einzigen Tag zu erfassen.

Sie selbst ist im Jahr 1971 hierhergekommen. Ursprünglich war sie eine Journalistin, die durch Indien reiste: „Und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich nur in Schlagzeilen denke“, sagt sie – jetzt bin ich derjenige, der lächelt; wir verstehen einander offensichtlich. Verschiedene Ereignisse reihten sich aneinander, die ihr Weltbild veränderten; und dann traf sie die Frau Aurobindos – in Auroville bekannt unter dem Namen „Mutter“ – und entschloss sich, hier zu bleiben und beim Fundraising für das Projekt Auroville zu helfen.

Ob das Projekt wohl irgendwann abgeschlossen ist? Derzeit jedenfalls noch nicht, sagt sie: Verschiedene ökonomische Systeme – etwa eine Wirtschaft ohne Geld – wurden bisher ausprobiert, aber alle hatten irgendwie ihre Macken; und so probiert die Community nach einem Trial-and-Error-Prinzip weitere Systeme aus, bis irgendwann die optimale Lösung gefunden ist. Und das kann noch lange dauern.

Wir sitzen in einer Kantine nahe ihrem Büro, und im Hintergrund sehen wir den wohl auffälligsten Erfolg von Maunas Fundraising-Arbeit: Das Matrimandir. Dieses Gebäude mit seiner riesigen goldenen Kuppel ist das geographische und spirituelle Zentrum Aurovilles. Im „Lonely Planet“ habe ich gelesen, dass in seinem Zentrum der größte makellose Kristall der Welt verborgen ist; Fremden ist der Zutritt aber verwehrt. Mauna allerdings merkt, dass ich mehr bin als ein bloßer Tourist; sondern ein Reisender, der etwas sucht, wovon er noch immer nicht weiß, was es eigentlich ist – und außerdem habe ich ihr von meiner Meditation im Ashram erzählt, die zeigt, dass ich spirituell nicht vollkommen unerfahren bin. „Du solltest daher nicht abreisen, ohne im Matrimandir meditiert zu haben“, sagt sie. Ich solle doch am nächsten Tag früh morgens wieder kommen. Das trifft sich gut, zumal ich am nächsten Tag ohnehin nach Mahabalipuram abreisen wollte und Auroville quasi auf dem Weg zwischen dort und Pondicherry liegt – ich willige also ein, fahre zurück nach Pondy und bin schon gespannt auf den nächsten Tag.