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Probelesen: „Pferde sind doof“

Der kleine Zug, der sich durch Tunnel und Biegungen, an steilen Klippen entlang von Neral – einem Ort in Maharashtra, zwischen Mumbai und Pune – zur Hill Station „Matheran“ hinauf bewegt, fährt so langsam, dass teilweise die Händler nebenher laufen können; Trittbrettfahrer springen auf und hängen während des letzten Wegstücks auf der Außenseite der Waggons. Als wir den Bahnhof erreichen und uns ein Schild freundlich mit den Worten „Welcome to Matheran“ begrüßt, steige ich mit meinem Gepäck aus dem Zug – und an meiner Stelle klettert eine Ziege in das kleine Abteil, macht es sich dort bequem.

Exkurs (1): Warum das Wochenende in Matheran verbringen? Nun, der Grund ist eine Mischung aus Neugierde und Nostalgie. Wie ich bereits an früherer Stelle erwähnte, habe ich als Kind in Bombay gelebt  – viel Zeit habe ich in den vergangenen Wochen und Monaten nicht mit dem Stöbern in alten Erinnerungen verbracht; doch gerade Matheran will ich mir nicht entgehen lassen. Denn schließlich haben unsere Schulausflüge genau in dieses kleine Eck Indiens geführt – während in Deutschland und Österreich die Kinder auf Sportwache oder Skikurs fuhren, verbrachte ich als 10jähriger meine Zeit mit Wanderungen über ein Hochplateau, Reiten auf Pferden und dem Füttern wilder Affen. Ziel meines Ausflugs ist, diese alten Erinnerungen hochleben zu lassen. Ende des ersten Exkurses.

Schon auf der Hinfahrt merke ich, dass irgendetwas anders ist. Als ich mein Ticket für den Miniatur-Zug kaufe, stehe ich Schlange hinter einem Haufen verwöhnter College-Kids aus Bombay – allesamt schwerst pubertierend -, die mit ihren Smartphones spielen. Ich passe mich an und mache einen Foursquare-Checkin. Im Zug selbst schließlich sitzen mir zwei Pärchen gegenüber, die den Stereotypen US-amerikanischer Highschool-Filme entsprechen: Die jungen Herren Beide muskelbepackt, mit offenem Hemd; das eine Mädel ist das Urbild der Chearleaderin – hübsch, aber mit offensichtlicher Dummheit in den Augen -, die andere ist ein Mauerblümchen, das ebenfalls mit fahren darf.

Nach zwei Stunden Fahrt: Besagte Ankunft in Matheran. Mit Ziege. Ich frage mich durch das kleine Dorf und finde schließlich mit Hilfe der freundlichen Einheimischen mein Ziel, das Cecil Hotel, irgendwo in der Wildnis, umgeben von Dschungel, rotem Sand und Straßenhunden.

Nach einem raschen Mittagessen mache ich mich auf, um die Stadt zu erkunden. Meine Erkenntnis: Nichts ist gleich. Die Herberge, in der ich als Kind residiert hatte, finde ich nicht mehr; und auch keinen anderen der früher so markanten Punkte. Dafür entdecke ich etwas anderes: Geschäfte. Sehr viele Geschäfte. Und sie verkaufen zweierlei: Souvenirs – und Schuhe.

Nun möge man denken, dass Schuhe ja auf einer Hill Station stark benötigt werden. Schließlich gibt es hier nicht allzu viel zu tun, außer im eigenen Hotel gemütlich einen Tee zu trinken oder wandernd die nähere Umgebung zu erkunden; und für einen gesunden Fußmarsch benötigt der Wanderer nun mal festes Schuhwerk. Ein genauerer Blick offenbart allerdings: Denkste. Denn statt sportlicher Ausrüstung finden sich in den Läden billige Flip-Flops aus China, als Wanderwerk denkbar ungeeignet. Wie bewegt man sich also hier fort, wenn nicht wandernd per Schuhwerk?

Diese Frage wird beantwortet durch auffallend viele Pferde. Die hohe Anzahl dieser Reittiere in Matheran wird nicht etwa damit erklärt, dass männliche Exemplare dieser Gattung echte Hengste sind, sondern ist eine simple ökonomische Schlussfolgerung aus dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage: Die Teenager selbst sind nämlich zu verwöhnt und faul, um sich per pedes fort zu bewegen; stattdessen reiten sie lieber.

Das war mir anfangs noch egal – doch irgendwann drückt es auf meine Stimmung. Gerade als ich mal wieder tief durchatme, um in meinen Lungen die verpestete Luft Bombays gegen die saubere, wenn auch staubige Landluft auszuwechseln, höre ich hinter mir wieder ein hysterischen Kreischen – ein weibliches Exemplar der Gattung Homo Pubertando hat das Gefühl, den eigenen Gaul nicht unter Kontrolle zu haben; durch den entsprechenden Brunftschrei versucht sie, die Aufmerksamkeit der Männchen zu erregen. Das Paarungsritual erstreckt sich über das gesamte Hochplateau.

Ich bin genervt. Meine Entspannung ist dahin.

Wenn in Indien der Status der Frustration erst mal eingetreten ist, wird es meist bald noch ein bisschen schlimmer. Als ich also den Weg entlang trotte, den trabenden Pferden ausweichend, suhle ich mich in meiner Unzufriedenheit: „Matheran – das Mallorca Mumbais“, grummle ich vor mich hin: „Nur halt mit Pferden statt mit Alkohol.“ Wenn man den Teufel ruft: Eine Horde männlicher Exemplare kommt aus dem Gebüsch, und spielt das Ausländer-Spiel: Wo kommst Du her, wie heißt Du, ich muss auf ein Foto mit Dir. Weil Du weiß bist. Keine Widerrede. Ob ich einen Whisky trinken möchte, fragt einer am helllichten Tag. Ich lehne ab und suche das Weite.

Exkurs 2: Die Werbeindustrie arbeitet mit dem dualen Prinzip von Freunde und Schmerz. Ein Konzept, das sich im Großteil aller Werbeclips wiederfindet: Zuerst wird eine Situation des Schmerzes erzeugt- mein Gott! Dreckige Wäsche! -; um anschließend umso brillanter gelöst zu werden (Hurra! Alles sauber!“).Das klingt bescheuert, funktioniert aber tatsächlich. Indien ist in dieser Hinsicht ein gewaltiger Werbeclip: Zuerst wird das Individuum mit allen Mitteln der Kunst frustriert, bis er sich schließlich über jede Kleinigkeit umso mehr freuen kann. Ende von Exkurs 2.

Meine Erlösung will nicht kommen. Ganz im Gegenteil: Die Sonne verschwindet hinter den Hügeln, taucht den Himmel in ein blutiges Rot – und nur zehn Minuten später ist es stockfinster; ich für meinen Teil stehe mittendrin in der Dunkelheit: Auf meiner Flucht vor Pferden und Fotografen habe ich einen der Seitenwege eingeschlagen, und nun zahle ich den Preis dafür. Ich bin verloren, irre durch das schwarze Dschungelmeer; anfangs finde ich noch ein paar Einheimische auf den schmalen Wegen, die mich auf der Suche nach meiner rettenden Bleibe aber stets in die falsche Richtung schicken – Halb-Wissen kann fatale Auswirkungen haben.

Irgendwann sind selbst die Einheimischen fort; es ist kein Mensch mehr im Dschungel, mit Ausnahme eines kleinen Deutschen, der erkennt, dass er verloren ist – statt der Menschen finden sich aber andere Lebewesen im Wald: Aus den dunklen Büschen höre ich Geraschel; es sind Geräusche, die kein Gesicht haben. Ein paar Straßenhunde – jene Viecher, die sonst nur faul auf der Straße liegen – sind erwacht; jetzt jaulen und bellen sie, und sie sind ganz nah. In diesem Augenblick ist es so weit: Ich verfluche die moderne Technik. Verfluche die Smartphones und Google Maps, und Foursquare und GPS. Verfluche, dass sie mein Leben in den vergangenen Jahren so einfach gemacht haben, dass ich abhängig von ihnen wurde – so dass ich nicht mal die grundlegenden Orientierungskenntnisse mehr besitze, um ein kleines Hotel im Urwald zu finden.

Ich überlege, ob ich auf eine weit simplere, aber stets effektive Form der Kommunikation zurückgreifen soll: Laut um Hilfe rufen.

Dann: Ein Licht. Ein Licht am Ende des … Weges. Ich spurte auf die Taschenlampe zu, spreche gehetzt: Ich habe mich verlaufen; man möge mir doch bitte sagen, wie ich zu meinem Hotel komme – bei den Besitzern der Taschenlampe handelt es sich um ein älteres Ehepaar. Sie sind sehr freundlich; und ihr Hotel ist gleich in der Nähe des meinigen, noch ein wenig weiter in der Wildnis.

Gerettet. Und glücklich. Der alte Werbe-Schmäh hat also mal wieder gewirkt, denke ich mir, als ich mit dem Hotel-Inhaber beim Abendessen sitze. Er ist ein alter Mann, um die 70 Jahre alt; sein weißer Schnurrbart drückt eine verschmitzte Ernsthaftigkeit aus, seine verbleibenden Haare hinter den stark ausgeprägten Geheimratsecken sind nach hinten gekämmt und vermitteln Seniorität. „Ja, die Pferde. Es sind tatsächlich mehr als vor 20 Jahren“, sagt er, und schaut mir tief in die Augen: Früher, da habe Matheran doch gute Rennpferde exportiert, heute sei das nur noch Mist. Und eine Lizenz zum Pferdevermieten bekomme heute Jeder, mit Bestechung der Polizei sei das kein Problem. Wir sitzen uns kurz schweigend gegenüber – ohne ein Wort zu sprechen sind wir uns einig, dass früher alles besser war.

Dann sprechen wir über andere Dinge. Etwa darüber, dass dieses Gasthaus mitten im Dschungel über 100 Jahre alt ist. Und das Restaurant des Anwesens, das sich in der Mitte zwischen den Wohnhäusern der Gäste befindet, war früher das Kino von Matheran – heute bröckelt der Putz von den Wänden, die Eingangstür ist flankiert von illuminierten hinduistischen Göttern; ich bin der einzige Gast, und es hallt gespenstisch, wenn ich kauend mein Mahl zu mir nehme.

Er fragt mich auch, was ich so beruflich mache. „Journalist“, sage ich: „Und außerdem schreibe ich Geschichten – über Indien, über diese Reise, und wie sich die indische Gesellschaft verändert. Wie chaotisch alles ist, und am Ende doch irgendwie einen Sinn macht.“ Wieder starrt er mich mit seinem durchdringenden Blick an, sein weißen Schnurrbart ruht über den dünnen Lippen: „Das Leben“, sagt der 70jährige: „ist ein Lernprozess – egal, wie alt man ist.“

Die Weisheit eines alten indischen Mannes, der auf einem Berg im Dschungel sitzt. Nicht wirklich spezifisch, sondern irgendwie allgemeingültig – und zu meiner Situation könnte es wohl nicht besser passen: Stimmt; ich habe hier nicht das gefunden, wonach ich gesucht habe, denke ich mir: Stattdessen habe ich auf meiner Reise durch dieses Land eine weitere Erfahrung gesammelt. Und diese ist Teil eines gewaltigen Lernprozesses.

 

Dieser Beitrag ist Teil des E-Books „Indien 2.0 – Twittern im Tuk-Tuk“, das aktuell bei Amazon erhältlich ist.