„Der hat viel zu viel verlangt“, sagt mein neuer Freund – der Beamte, der gerne am Strand mit Ausländern spricht – kopfschüttelnd in Bezug auf den Wahrsager. Wir sind uns wieder mal bei einem abendlichen Strandspaziergang begegnet und sitzen erneut auf dieser Bank an der Promenade, reden über das Leben und die Liebe.
„Es sind ja viele Touristen hier“, sage ich; vor allem Franzosen. „Ja, und die europäischen Frauen sind so aufgeschlossen“, sagt er begeistert: „Sie zeigen so viel von ihrer Brust“. Stimmt, zumindest im Vergleich: Traditionelle indische Kleider bedecken den Körper der Frau in den meisten Fällen bis zum Hals; ein wenig vom Oberkörper zu zeigen ist für die Verhältnisse einer südindischen Kleinstadt daher extrem aufreizend. Mein Gesprächspartner hat das Verhalten der Westler auf der Promenade jahrelang studiert: „Oft spricht ein Mann eine Frau beim abendlichen Spaziergang einfach an; dann plaudern sie ein wenig, gehen ins Hotel und haben dort Sex“, erläutert er begeistert: „Hier hast Du also leichtes Spiel mit den Frauen.“ Ich lächle höflich, nicke und weise ihn darauf hin, dass in Österreich eine wundervolle Frau auf meine Rückkehr wartet.
Ob ich verheiratet bin, fragt er mich folglich; und ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich zwar nicht verheiratet bin, aber eine wundervolle Freundin an meiner Seite weiß. Er nickt wissend: Europäer hätten ja viele Freundinnen und mit mehreren Menschen Sex, bevor sie heiraten – wie viele es denn bei mir schon gewesen seien? Ich nenne ihm emotionslos eine Zahl, die in Wien wohl niemand vom Hocker gerissen hätte – er aber lacht anerkennend; offensichtlich hält er mich für einen wilden Hengst.
„Und, Ihr könnt jederzeit Sex miteinander haben? Einfach so?“, fragt er mit großen Augen. Ja, klar, sage ich. Ist in Europa ja normal. Er hingegen lebt in einer arrangierten Ehe; die Eltern haben seine Frau für ihn ausgesucht – das ist auch im modernen Indien nicht ungewöhnlich; und Sex vor der Ehe ist für ihn Tabu. „Außerdem sind indische Frauen nicht so wirklich scharf auf Sex“, sagt er bedauernd. Würde mal ein paar Monate nichts laufen, wäre das kein Drama. Und überhaupt sei alles etwas schwieriger, sobald die Kinder da seien: Mit Frau und Nachwuchs schlafe er gemeinsam in einem Zimmer; und das erschwert den Austausch von Zärtlichkeiten in der Nacht immens – als Lösung auf das Problem treffe er sich manchmal mit seiner Frau zuhause in der Mittagspause, während die Kinder in der Schule sind. Aber auch abgesehen von der Anwesenheit der Kinder sei das Sexleben seit deren Geburt nicht mehr so berauschend: Die Zielsetzung des Geschlechtsverkehrs – also das Zeugen von Nachwuchs – sei dann erreicht; und die Frau habe entsprechend nicht mehr viel Interesse, seine Liebste sei in den vergangenen Jahren auch extrem in die Breite gegangen.
Nächste Frage: Welche Kleidung ich eigentlich zum Duschen trage. „Ich dusche eigentlich meistens nackt“, entgegne ich. Auch diese Tatsache beeindruckt meinen Gesprächspartner: Er selbst trage stets Unterwäsche beim Duschen; denn alles andere wäre ja obszön, sagt er. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm glauben soll.
Vor dem Einschlafen liege ich im Bett und schalte durch die Fernsehkanäle. In Hindi-Musikvideos tanzen wieder Frauen durch das Bild – bekleidet mit knappen Saris in leuchtenden Farben präsentieren sie ihre flachen Bäuche der Menschheit; auf einem andren Kanal wird diskutiert, welche Bollywood-Stars gerade etwas miteinander laufen haben. Ich weiß: Nicht ganz Indien ist so wie die Welt meines Freundes vom Strand – aber im Großen und Ganzen bin ich glücklich, meine sexuelle Sozialisierung in einer westlichen Kultur erlebt zu haben.