Sind wir alt geworden? Nein, vermutlich nicht – aber erwachsen. Während sich das pubertierende Fußvolk volltrunken im Schlamm wälzte, lauthals Sauflieder grölte und die freundlichen Bediensteten der Ottakringer-Stände am laufenden Band beleidigte – all dies ironischerweise als Teil eines für uns nicht mehr nachvollziehbaren Paarungsrituals -, saßen der Peqer und ich vor unserem Zelt und spielten Schach. Drei Stunden dauerte eine Partie, es ging bis auf’s letzte Blut; und währenddessen kamen immer wieder tätowierte Möchtgern-Penner im „Fuck it all“-Pullover vorbei, um anerkennend zu lallen: „Boah, eh, Schach, schooon supa, ne…“. Das bestätigte uns nicht nur in unserem ohnehin schon reichlich überzogenen Selbstwertgefühl, sondern half uns auch, die Durststrecken vor den ersten Konzerten zu überleben. Kurz gesagt: wir waren der Musik wegen da, nicht zum Ficken.
Unzerstörbare Ärzte
Und wir sollten nicht enttäuscht werden: dass Tocotronic während ihres – viel zu kurzen – Auftritts auf der Nebenbühne der wichtigste Act des Mittwoch werden, hatten wir eh schon gewusst – nicht zuletzt, weil Tool ja kurzfristig abgesagt hatten. Der Donnerstag wiederum hielt eine Heiß-Kalt-Dusche an Emotionen bereit: angenehm erfrischend der Auftritt der Ärzte, die sich ja im vergangenen Jahr ob ihrer Soloprojekte durch so manches Trennungsgerücht kämpfen mussten. Davon ist nun nichts mehr zu spüren: die Ansagen sind frech und witzig wie eh und je, die Stimmung oben auf der Bühne wie unten im Publikum ausgelassen. Kleiner Malus: gespielt wurden in erster Linie neue, kommerziell erfolgreiche Stücke, die echten Klassiker (mal abgesehen von „Westerland“, die DDR-Antwort auf „I am from Austria“) wurden ausgelassen. Fazit: ich verspürte den Wunsch, nach den Ansagen zu applaudieren, nicht nach den Songs. Die Berliner sind mittlerweile wohl mehr Comedy als Musik.
Vor den Ärzten: Nine Inch Nails. „They booked us between two German bands“, sagte ein sichtlich genervter Trent Reznor – seine einzige Ansage an dem Abend. Ermüdet fragte er weiter: „Who are you here for anyway?“. Das war’s dann auch schon. Ansonsten wurden die Hits studiogerecht runter gespielt, kaum Improvisationen. Wer sich eine CD kauft, kommt wohl besser davon.
Überraschungserfolg hingegen: The Good, The Bad and The Queen. Natürlich wäre ich versucht, einfach zu sagen: „Das ist das neue Projekt von Blur-Frontmann Damon Albarn“. Aber es geht um viel mehr als einen Ex-Britpopper, nämlich um Paul Simonon (Ex-Bassist von „The Clash“), Tony Allen (Schlagzeuger von Fela Kuti) und Simon Tong (Ex-Gitarrist von „The Verve“). Der Begriff „Cool“ muss für diese Truppe neu definiert werden: das Intro bringen drei Damen in schwarzen Gewändern, die auf Streichern spielen, daraufhin betritt die Band die Bühne – ebenfalls gänzlich in schwarz gekleidet, Albarn einen Zylinder tragend, Simonon lässig eine Zigarette rauchend und hübsche, junge Mädels im Publikum mit einem durchdringenden Blick fixierend. Musikalisch spielen sie auf mit einem Soft-Rock, der meditative, sich wiederholende Elemente enthält, begleitet von Albarn am Klavier. Künstlerisch das wohl anspruchsvollste, was ich in den letzten Monaten gesehen habe.
Auch erwähnen sollte man die netten, kleinen Bands, die uns den Nachmittag versüßten: Die deutschen „Fotos“ etwa, denen ihre Begeisterung, endlich mal vor einem großen Publikum spielen zu können, deutlich anzusehen war. „Könnt Ihr das nochmal machen?“ fragt der Sänger ins Publikum als Antwort auf Anfeuerungsrufe aus der Masse. Musikalisch und stilistisch besteht da schon einiges an Wachstumspotential – eine Kategorie, in die andere Anfängerbands (wie „Snow Patrol“ oder die „Kaiser Chiefs“) wohl ebenfalls gehört hätten.
Jamaica fällt ins Wasser
Und immer, wenn ich Seeed sehen möchte, regnet es. So auch am Freitag. Da ich das letzte Mal (Nuke Festival, 2004) beinahe gestorben wäre, stellten sich der Peqer und ich diesmal die Frage: „Ist es uns das wert? Da stehen in Regen und Kälte – für eine Band, die wir eigentlich doof finden?“ Blöde Frage. Somit sind wir schon am Freitag wieder heim gefahren, haben Seeed und ihr 15jähriges, bekifftes Ö3-Publikum alleine im Regen stehen lassen.
Man soll ja gehen, wenn es am schönsten ist.